Echo des Lebens: Leseprobe
1
Das aufdringliche Schrillen des Handys durchschnitt die Stille in dem kleinen Büroraum. Der Ton war durch die Tasche, in der es steckte, deutlich gedämpft, doch Marion zuckte heftig zusammen. Sie saß über einer komplizierten Abrechnung und wollte sich nicht ablenken lassen. Egal, wer es war, er würde sich gedulden müssen.
Ihre Kollegin Julia, die ihr gegenüber saß, lachte. »Du brauchst mal einen vernünftigen Klingelton. Nicht so eine Sirene. Gehst du nicht ran?«
Marion seufzte. Ihre Konzentration war beim Teufel, also konnte sie das Gespräch genausogut annehmen. Sie nestelte das Handy aus ihrer Handtasche, die unter dem Tisch stand, als es verstummte.
»Problem gelöst«, grinste Julia.
Marion sah auf die Nummer. Die Vorwahl stammte aus ihrem Heimatort, aber ansonsten war sie ihr unbekannt. Sie würde nach Arbeitsschluss am Mittag zurückrufen. Auch eine neue WhatsApp-Nachricht hatte sie erhalten. Sie lächelte, als sie die Zeilen ihres Mannes las. ›Meine Konferenz fällt aus. Mache heute blau und fahre gleich heim‹, hatte er vor einer Stunde geschrieben. ›Vielleicht können wir nachmittags mit Stefanie rodeln gehen oder sonst was unternehmen. Hab dich lieb.‹
Eine gute Idee. Ihre Tochter würde sich über einen unverhofften Ausflug freuen.
Als sie das Handy zurück in die Tasche steckte, klingelte das Telefon, das zwischen den Schreibtischen stand. Julia sah sie an. »Du oder ich?«
»Du. Ich hatte heute früh schon etliche Gespräche. Ich muss diese Abrechnung fertig kriegen, bevor ich gehe.« Marion drehte sich zu ihrem Computer und hörte nur noch mit halbem Ohr, wie sich Julia mit dem Namen der Versicherungsgesellschaft, für die sie arbeiteten, meldete.
»Frau Degenhart? Ja, die ist hier. Einen Moment.«
Marion seufzte. Als sie die Hand nach dem Telefonhörer ausstreckte, warf sie Julia einen fragenden Blick zu.
»Jemand vom Klinikum Fürstenfeldbruck«, raunte die Kollegin, während sie die Telefonmuschel mit der Hand abdeckte.
»Wegen einer Abrechnung?« Noch mehr Arbeit. Marion stöhnte innerlich. »Degenhart«, meldete sie sich und erwartete, mit den Versicherungsdaten eines Patienten konfrontiert zu werden. Doch dann wurde sie blass. Julia hielt in ihrer Arbeit inne und beobachtete sie. Marion umklammerte den Hörer so fest, dass ihre Fingerknöchel langsam weiß wurden.
»Was ist los?«, fragte Julia alarmiert.
»Ja, natürlich, ich komme gleich«, murmelte Marion. »Auf Wiedersehen.«
Julia stand auf und lief um ihren Schreibtisch herum. Marion hielt immer noch den Hörer in der Hand, hatte ihn aber sinken lassen. Behutsam legte Julia ihre Hand auf die Schulter der etwas älteren Kollegin. Langsam und wie aus tiefer Trance erwachend, sah Marion auf.
»Was ist passiert?«, wiederholte Julia.
»Mein Mann hatte einen Unfall.« Marions Stimme war nur ein leises Wispern.
»Einen Unfall? Mit dem Auto?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Du glaubst?«
»Sie haben mich nur gebeten, sofort zu kommen.« Ein Schauer durchlief Marion, doch er riss sie aus ihrer Starre. Sie ließ das Telefon achtlos fallen, während sie aufsprang und nach ihrer Jacke und Tasche griff. »Ich muss sofort hin.«
Julia schüttelte den Kopf. »Ich lasse dich auf keinen Fall fahren. Du bist viel zu aufgewühlt. Ich bringe dich hin.«
»Das musst du nicht.«
»Doch, das muss ich. Ich sage nur schnell Bescheid.«
Stumm starrte Marion durch die Windschutzscheibe. Es schneite schon wieder und sie kamen nur langsam voran. Sie war Julia dankbar für den Fahrdienst. Sie bezweifelte, dass sie sich im Moment auf den Verkehr konzentrieren konnte. Der Ring um ihre Brust zog sich immer enger zusammen und nahm ihr die Luft zum Atmen. Ihr Mann war verunglückt und es war schlimm. Sie wusste einfach, dass es schlimm war. Es war nur ein Gefühl und sie hoffte mit aller Macht, dass es sie trog. Fröstelnd zog sie den Reißverschluss ihrer gefütterten Jacke höher.
»Mach dir nicht so viele Sorgen«, versuchte Julia sie aufzumuntern. »Wahrscheinlich hat er nur ein paar Kratzer.«
»Dann hätte er selbst angerufen.«
»Vielleicht kann er nicht, weil sie ihn gerade verarzten. Sie haben deine Nummer doch sicher von ihm bekommen. Bestimmt hat er einfach darum gebeten, dich zu informieren.«
Marion atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen, doch es gelang ihr nicht. »Er hat in der Brieftasche einen Zettel mit allen Nummern, unter denen ich zu erreichen bin. Nein, ich fühle es ganz deutlich: Es ist etwas Furchtbares passiert.«
»Hoffentlich nicht.« Julia ließ die Freundin für den Rest der Fahrt in Ruhe. »Soll ich mitkommen?«, fragte sie, als sie vor dem großen Gebäudekomplex hielt.
»Lieb von dir, aber das kann dauern. Du könntest dich um meine Abrechnungen kümmern.«
»Du hast vielleicht Nerven.« Julia schüttelte den Kopf. »Das sollte jetzt deine geringste Sorge sein. Sag ihm einen Gruß von mir.« Sie nickte der Kollegin noch einmal aufmunternd zu, bevor sie wendete und zurückfuhr.
Marion sah ihr nach und fröstelte. Sie hatte Angst, das Krankenhaus zu betreten. Sie glaubte einfach nicht, dass Julia recht hatte. Irgendein unbestimmtes Gefühl sagte ihr, dass eine schreckliche Nachricht auf sie wartete. Es war wie ein lähmendes Entsetzen, das sich in ihre Glieder schlich.
Sie holte tief Luft. Vielleicht machte sie sich wirklich nur verrückt. Sie hasste es selbst, dass sie sich andauernd um alles Mögliche sorgte. Ihr Mann zog sie immer damit auf, dass sie viel zu jung für Sorgenfalten wäre, aber sie hatte in den letzten Jahren einfach zu viel verloren, um nicht ständig in Alarmbereitschaft zu sein.
Wie es ihm wohl ging? Sie würde es nie erfahren, wenn sie weiter vor dem Krankenhaus stand und die Fassade hinauf starrte. Seufzend setzte sie sich in Bewegung. Erst bei der Anmeldung blieb sie stehen.
»Mein Name ist Marion Degenhart«, sagte sie zu dem älteren Mann, der sie freundlich ansah. »Ich bin angerufen worden.«
»Ah ja.« Der Angestellte nickte. »Ich sage gleich Bescheid. Nehmen Sie doch bitte einen Moment Platz.«
Nach kaum fünf Minuten wurde sie von einer Schwester abgeholt.
»Frau Degenhart? Ich bin Schwester Ina. Würden Sie bitte mitkommen?«
Sie stand auf. Bildete sie es sich nur ein oder hatte die Schwester ihr einen mitleidigen Blick zugeworfen? Der Kloß in ihrem Hals wurde immer größer.
»Bitte sagen Sie mir, was mit meinem Mann ist«, presste sie mühsam hervor. »Wie geht es ihm?«
»Er hatte einen schweren Unfall, Frau Degenhart«, meinte die junge Schwester leise. »Der behandelnde Arzt, Herr Dr. Drescher, möchte mit Ihnen sprechen.«
So schlimm war es also, dass sogar der Arzt mit ihr reden wollte, bevor sie ihren Mann sehen durfte? Marion wurde schwindelig. Die Wände schienen auf sie zuzukommen und sie zu erdrücken. Sie tastete nach einem Halt.
Schwester Ina legte ihr eine stützende Hand auf den Arm. »Möchten Sie sich einen Moment setzen?«
»Nein, danke, es geht schon.« Marion presste die Lippen aufeinander. Sie wollte endlich wissen, wie es ihrem Mann ging.
Der Marsch durch die Gänge erschien ihr endlos. Wie lange waren sie bereits unterwegs? Fünf Minuten? Zehn? Oder waren es erst Sekunden? Sie bewegte sich wie in einem Nebel, ohne jegliches Zeitgefühl. Der lähmende Schrecken hatte sie wieder im Griff und verhinderte, dass sie einen vernünftigen Gedanken fassen konnte. Erst, als die Schwester an eine Tür klopfte und sie nach einer kurzen Ankündigung eintreten ließ, schaffte sie es, die Benommenheit abzuschütteln. Gefasst trat sie auf den Arzt zu, der von seinem Schreibtisch aufgestanden war. Er musste etwa Mitte Fünfzig sein und lächelte sie so warm und aufmunternd an, dass Marion wieder zu hoffen begann.
»Bitte nehmen Sie Platz, Frau Degenhart.«
»Bitte, was ist mit meinem Mann?«
»Wie es den Anschein hat, ist er auf eisglatter Fahrbahn ins Schleudern gekommen und hat die Kontrolle über seinen Wagen verloren. Er hat sich mehrmals überschlagen und ist dann gegen einen Baum geprallt.«
Vor Marions innerem Auge lief der Unfall wie auf einer Kinoleinwand in 3D ab. Ein eiskalter Schauer ließ sie erzittern. Sie wollte das nicht hören. Sie wollte zurück an die Arbeit und einfach so weitermachen wie bisher. Dann würde ihr Schatz auch am Abend zu ihr nach Hause kommen. Er würde sie küssen und sie fragen, wie ihr Tag gewesen war. Und sie würde sich an seine Schulter schmiegen und ihn nie wieder loslassen.
»Im Moment wird Ihr Mann operiert«, fuhr Dr. Drescher fort. »Eine Schwester wird Ihnen noch die nötigen Formulare bringen, die Sie bitte ausfüllen.«
»Wie schlimm ist es?« Marion hörte ihre eigene Stimme kaum.
»Ich will Ihnen nichts vormachen, Frau Degenhart. Der Zustand Ihres Mannes ist sehr ernst. Aber nicht hoffnungslos. Wir müssen das Ende der Operation abwarten, um Genaueres sagen zu können.«
Marion nickte mechanisch. Sie war nicht in der Lage, das Gehörte zu verarbeiten. Ihr Gehirn schien sich abgeschaltet zu haben.
»Die OP wird noch eine ganze Weile dauern. Möchten Sie hier warten, oder sollen wir Sie zu Hause anrufen ...«
»Ich bleibe hier.«
»Gut. Die Schwester wird Sie in einen Wartebereich bringen. Wir sagen Ihnen so schnell wie möglich Bescheid.«
Marion blätterte eine Zeitschrift durch, doch sie sah nicht, was darin stand. Schon seit zwei Stunden saß sie hier. Angehörige von Patienten waren gekommen und wieder gegangen. Jedes Mal, wenn sich die Tür öffnete oder sie eine Bewegung auf dem Gang wahrnahm, sah sie hoffnungsvoll auf. Doch es gab keine Neuigkeiten. Es dauerte schon viel zu lange. Zum gefühlt tausendsten Mal sah sie auf die Uhr, die unbarmherzig an der Wand vor sich hin tickte. Stefanie würde bald aus der Schule kommen. Sie zückte ihr Handy und wählte die Nummer ihrer Nachbarin.
»Hallo Anja, hier ist Marion«, meldete sie sich, als die Freundin abhob. »Könntest du dich bitte um Stefanie kümmern, wenn sie nach Hause kommt?«
»Aber natürlich. Musst du länger arbeiten?« Die fröhliche Stimme ihrer quirligen Nachbarin schnitt Marion ins Herz.
»Nein, ich bin im Krankenhaus. Ich ...« Die Worte blieben ihr im Hals stecken und sie musste tief durchatmen. Doch dann erzählte sie, was passiert war.
Anja wurde abrupt ernst. »Oh Gott, es ist doch hoffentlich nicht schlimm?«
»Er wird gerade operiert. Ich weiß noch nichts Genaues, aber es scheint sehr ernst zu sein.«
»Soll ich kommen? Brauchst du Unterstützung?«
»Nein, wenn du für Stefanie sorgst, hilft mir das schon sehr viel.«
»Klar doch. Allerdings habe ich am späteren Nachmittag einen Zahnarzttermin mit Jana.«
»Kein Problem. Schick sie dann einfach heim. Sie ist ja alt genug, um auch mal allein zu sein. Es geht mir nur darum, dass sie was zu essen kriegt und ihre Hausaufgaben macht.«
»Das kriegen wir hin. Und sieh nicht so schwarz. Dein Schatz ist ein Kämpfer. Er wird bestimmt wieder gesund.«
»Danke.« Als Marion das Handy wegsteckte, bröckelte die mühsam auferlegte Selbstbeherrschung von ihr ab und sie begann zu weinen. Anja hatte recht, er war ein Kämpfer. Ihn konnte so leicht nichts umwerfen. Aber was, wenn das dieses Mal nicht reichte?
Sie durfte ihn nicht verlieren. Ohne ihn wäre sie völlig hilflos. Er war ihr Fels in der Brandung, er hatte sie aufgefangen, als ihr ganzes Leben über ihr zusammengestürzt war. Wie lange war das schon her? Eine gefühlte Ewigkeit. Unwillkürlich lächelte sie, als ihre Gedanken in die Vergangenheit zurückwanderten.
2
»Magst du am Freitag zu meiner Geburtstagsfeier kommen?«
Erstaunt sah Marion sich um. Katharina konnte unmöglich sie gemeint haben. Normalerweise würdigte die Klassenkameradin sie keines Blickes. Das ging so weit, dass sie Marion teilweise nur bei ihrem Nachnamen Lahner rief. Und plötzlich lud sie sie zum Geburtstag ein? »Meinst du mich?«
»Natürlich.« Das hübsche Mädchen lachte und strich sich durch die langen dunklen Haare. »Es wird Zeit, dass wir uns ein wenig besser kennenlernen. Immerhin sind wir schon etliche Jahre in der gleichen Klasse. Wie viel genau?«
Mehr als Marion zählen wollte. Drei Mal waren die Klassen inzwischen gemischt worden, als sie sich für unterschiedliche Fachrichtungen entschieden hatten und immer war Katharina in ihrem Zweig gelandet. Marion wäre gern mit ihr befreundet gewesen, denn Katharina und ihre Freundin Sabrina gaben hier den Ton an. Allerdings scheiterte dies an der hochnäsigen Art, mit der die zwei Mädchen sie behandelten. Und jetzt wurde sie zur Geburtstagsfeier eingeladen?
»Schau nicht so doof. Kommst du oder nicht?« Katharina grinste sie gutgelaunt an. Sie schien es wirklich aufrichtig zu meinen.
»Weiß ich noch nicht.« Marion musste zuerst ihren Vater um Erlaubnis fragen, aber das hätte sie nie zugegeben. Sie war siebzehn und musste erst betteln, ob sie zu einer Party gehen durfte, so etwas hängte man nicht an die große Glocke. »Was hast du denn geplant?«, fragte sie stattdessen.
»Ach, nichts Besonderes. Meine richtige Geburtstagsfeier ist erst am Samstag. Ich will nur mit ein paar Freundinnen abhängen und eine gute Zeit haben. Es kommen auch nicht viele. Sabrina natürlich, du und noch zwei oder drei andere. Meine Mama macht Kuchen und wir wollen im Wintergarten grillen. Vielleicht gibt es auch noch eine Überraschung. Man wird schließlich nur einmal achtzehn. Also, wie sieht es aus? Ich muss wissen, ob ich mit dir rechnen kann. Bist du dabei oder nicht?«
»Ja, ich komme gern«, sagte Marion zu. Es hörte sich so harmlos an, dass ihr Vater sicher nichts dagegen hatte. Diese Gelegenheit, sich mit dem beliebtesten Mädchen der Klasse anzufreunden, durfte sie sich nicht entgehen lassen.
»Du bist aber um elf Uhr daheim.«
»Papa!« Marion sah ihre Felle davonschwimmen. »Ich kann doch nicht um elf schon sagen, dass ich nach Hause muss wie ein kleines Kind. Tu mir das nicht an. Bitte.«
»Sie hat recht, Georg«, mischte sich ihre Mutter ein. »Gönn ihr ein bisschen mehr Zeit. Marion ist doch schon siebzehn und wir können ihr vertrauen.«
Das Gesicht ihres Vaters verfinsterte sich. Er mochte es nicht, wenn seine Frau ihm widersprach. Widerspruch ganz allgemein gefiel ihm nicht.
»Wie heißen diese Leute?«
»Helfenstein. Ich glaube, Katharinas Vater ist Rechtsanwalt, bin mir aber nicht ganz sicher.« Marion hielt den Atem an.
Zu ihrer Überraschung lenkte ihr Vater ein. »Gut, sagen wir bis zwölf Uhr. Dann bist du aber hier. Bis Mitternacht ist ja wohl lange genug für eine Feier. Was macht ihr überhaupt?«
»Essen, quatschen, grillen, so Zeug halt.«
»Sind Jungen dabei?«
»Katharina hat nichts davon erwähnt.«
»Okay. Dann viel Vergnügen.«
Marion war froh, als sie das Arbeitszimmer ihres Vaters verlassen konnte. Sie liebte ihn natürlich, aber sie hatte auch immer ein wenig Angst vor ihm. Ihre Familie gehörte väterlicherseits zu den Urgesteinen im Dorf und Georg Lahner war sehr darauf bedacht, das Ansehen zu wahren. Der große Betrieb, bestehend aus einem Sägewerk und einer Zimmerei, den er von seinen Eltern übernommen hatte, verhalf ihm zu einigem Einfluss, den er durch verschiedene Vereinszugehörigkeiten unterstrich. Marion hätte einen liebevollen Vater bevorzugt. Sie war noch nie geschlagen worden, aber sie konnte sich auch nicht erinnern, dass ihr Vater sie jemals in den Arm genommen hatte. Bei ihrer Schwester Laura war das anders. Die Zehnjährige schaffte es jederzeit, ihren Vater zum Lachen zu bringen. Sie kuschelte sich einfach auf seinen Schoß und wurde auch umarmt. Natürlich hatte Laura auch einen coolen Namen bekommen. Marion machte durchaus ihren Vornamen dafür verantwortlich, dass Katharina und Sabrina sie bisher so verächtlich behandelt hatten. Wer hieß denn heutzutage noch Marion? Aber ihr Vater hatte es damals so entschieden, wie sie von ihrer Mutter wusste. Deren Favorit war Sarah gewesen. Zumindest hatte Marion diesen Namen als Zweitnamen bekommen. Als sie ins Gymnasium gekommen war, hatte sie versucht, sich als Sarah vorzustellen, was aber natürlich daran gescheitert war, dass alle Lehrer sie mit Marion aufriefen. Der verächtlich spöttische Blick, den Katharina ihr damals zugeworfen hatte, brannte immer noch tief in ihr.
Ihre Mutter fuhr sie. »Wie kommst du denn wieder nach Hause?«, erkundigte sie sich.
»Katharinas Vater bringt mich heim. Ihr braucht nicht auf mich zu warten. Ich bin bestimmt pünktlich da. Danke übrigens.«
Ihre Mutter nickte nur und lächelte. Marion wusste, wie schwer es ihr fiel, sich gegen ihren Mann aufzulehnen. Auch wenn es um so einfache Sachen ging, wie eine Stunde mehr Ausgangszeit für ihre Tochter herauszuschlagen. Sie glaubte nicht, dass sich ihre Eltern besonders liebten. Ihre Mutter kam ihr immer etwas resigniert und schicksalsergeben vor.
»Wir sind da«, sagte Frau Lahner einige Minuten später, als sie vor einem gelb gestrichenen Wohnhaus anhielt. »Viel Spaß.«
Marion hatte nicht den Eindruck, als würde Katharina ihre Freundschaft suchen. Seit zwei Stunden war sie schon hier, aber sie hatten kaum ein Wort miteinander gewechselt. Trotzdem fühlte sie sich wohl. Katharinas Eltern waren sehr nett und sprachen mehr mit ihr als Katharina in der ganzen Schulzeit.
»Wann wollt ihr denn fahren?«, fragte Herr Helfenstein.
»Fahren? Wohin denn?«, erkundigte sich Marion.
»Wir gehen noch in eine Bar in der Münchener Innenstadt«, erklärte Hannah ihr. Sie war Katharinas Nachbarin und mit zwanzig Jahren die Älteste der Gruppe.
»Eine Bar?« Marion war sicher, dass ihr Vater damit nicht einverstanden wäre.
Katharina lachte anzüglich. »Was ist los? Kneifst du?«
»Nein. Aber ich habe kein Geld dabei.«
»Du brauchst auch keines. Du bist natürlich eingeladen.«
»Danke. Aber du weißt, dass ich erst siebzehn bin, oder?«
»Klar. So wie Sabrina und Franziska auch. Aber wir können ja trotzdem bis Mitternacht bleiben.«
»Da soll ich schon daheim sein«, bekannte Marion kleinlaut.
»Das kriegen wir hin«, versprach Katharina gönnerhaft. »Nur keine Bange. Na los, wir haben bestimmt viel Spaß.«
Entgegen Marions Befürchtungen wurde es tatsächlich sehr lustig. Die anderen Mädchen schienen schon öfter hier gewesen zu sein, doch für sie war eine Bar absolutes Neuland. Wenn ihr Vater wüsste, dass sie hier war, würde er sie höchstpersönlich an den Haaren hinauszerren. Aber zum Glück würde er es nie erfahren. Sie konnte bestimmt behaupten, dass Katharinas Eltern geraucht hatten, wenn ihre Eltern den Zigarettenqualm in ihren Kleidern rochen. Dass mehr als die Hälfte der Gäste rauchte, störte sie, aber es gehörte einfach zur Atmosphäre einer Bar dazu.
Die fünf Mädchen saßen in einer Nische, schlürften Cocktails mit und ohne Alkohol und unterhielten sich über Gott und die Welt. Marion hörte meistens nur zu. Wenn es um Themen wie Mode und Jungs ging, konnte sie nicht allzu viel beitragen. Markenklamotten bekam sie so gut wie nie und ihr Vater ließ keinen Zweifel daran, dass sie nach seiner Ansicht für näheren Kontakt zum anderen Geschlecht noch zu jung war.
Marion sah das natürlich anders. Einer der zwei jungen Männer, die drüben an der Bar lehnten und sich unterhielten, gefiel ihr sehr. Er war groß und blond und hatte ein sympathisches Lachen.
»Welcher von den beiden gefällt dir?«, fragte Katharina, die ihrem Blick gefolgt war.
»Der Blonde«, gab sie zu.
Katharina nickte. »Ist schon ein Schnuckelchen«, stimmte sie zu. Sie stand auf. »Ich hole noch was zu trinken. Wer mag noch?«
Marion sah auf die Uhr. Die Zeit wurde allmählich knapp. Sie sollte die neue Freundin langsam daran erinnern, dass sie um Mitternacht zu Hause sein musste.
Aber das war nicht so einfach. Denn Katharina kam in Begleitung der zwei jungen Männer von der Bar zurück, die sich als Frank und Simon vorstellten und sich ganz selbstverständlich zwischen die Mädchen setzten. Wenn Marion allerdings gehofft hatte, mit Simon ein paar Worte wechseln zu können, wurde sie enttäuscht. Denn Katharina flirtete ganz offen mit ihm.
»Hast du Feuer?«, fragte sie und hielt ihm eine Zigarette entgegen. Lächelnd zündete er sie ihr an. Sie sah ihm tief in die Augen, als sie sich bedankte und sein Lächeln wurde breiter.
Marion rümpfte die Nase über den Qualm, den Katharina in ihre Richtung blies. Auch Simons Freund hatte sich eine Zigarette angesteckt und sie musste husten. Verstohlen versuchte sie, den Blick der Schulkameradin aufzufangen, und tippte auf ihre Uhr.
»Was ist los?«, fragte Katharina.
»Wir müssen langsam gehen.«
»Müssen wir gar nicht. Es wird doch gerade erst schön.«
»Aber ich muss um zwölf daheim sein.«
»So ein Pech für dich.«
Marion wurde kalt. Es war ihr peinlich, dass sich alle ihr zuwandten, aber die Angst vor ihrem Vater war größer. Wenn sie zu spät nach Hause kam, gab es bestimmt Hausarrest oder Fernsehverbot. Oder beides.
»Du weißt schon, dass Minderjährige um Mitternacht raus müssen, oder?«
»Klar, aber ich bin seit heute nicht mehr minderjährig.«
»Aber Sabrina und Franziska schon.« Marion sah die beiden Mädchen an.
Sabrina lächelte maliziös. »Wir haben von unseren Eltern Aufsichtsvollmachten für Katharina und Hannah ausfüllen lassen. Somit können wir beide auch länger bleiben.«
Marion wurde schlecht. Sie ahnte, worauf das alles hinauslief.
»Ich kann dich schnell heimfahren«, bot Hannah an.
»Nein, kannst du nicht«, widersprach Katharina schnell. »Du bist Franziskas Aufsichtsperson, du musst hierbleiben. Sie hätte sich einfach früher kümmern müssen.« Sie warf Marion einen schadenfrohen Blick zu, der ihre wahren Absichten enthüllte.
Es war eine Falle gewesen. Die ganze angebliche Vorfeier war nur dazu bestimmt, sie zu demütigen. Katharina hatte sich damit anscheinend ein besonderes Geschenk gemacht. Marion hatte willig mitgespielt. Wie war sie nur auf die Idee gekommen, dass Katharina sie auf einmal mochte? Menschen änderten sich nicht von heute auf morgen.
Sie biss sich auf die Lippe, die anfing zu zittern. Für ihre Mitschülerin war es bestimmt ein toller Streich, Marion mitten in München stranden zu lassen, um ihr zu zeigen, was sie für ein unbedarftes Landei war, aber für sie konnte es weitreichende Folgen haben.
»Ich muss aber heim«, versuchte sie es noch einmal.
»Kein Problem.« Katharina lachte laut. »Wir halten dich nicht. Ganz im Gegenteil. Niemand braucht hier so eine Spaßbremse wie dich. Na los, verschwinde. Geh draußen jemanden anbetteln, der dir Geld für die Heimfahrt gibt.« Sie wedelte gönnerhaft mit der Hand und wandte sich kichernd Sabrina zu. »Schau mal, sie heult gleich«, feixte sie.
Marions Gesicht brannte, als sie aufstand. Nur Hannah und der blonde Mann warfen Katharina einen ungläubigen Blick zu, doch die anderen lachten lauthals mit.