Die Liebe des Schicksalsschreibers - Leseprobe
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Prolog
Gleich würde es passieren. Er wusste, was kommen würde. In wenigen Sekunden würde der kleine Junge, der fröhlich hinter seinem Ball herlief, die Tretmine erreichen. Warum war das Schicksal nur so grausam und warum war er einer von denen, die es durchsetzen musste? Als die Mine explodierte, verursachte es ihm beinahe körperliche Schmerzen, obwohl das unmöglich war. Gerade hatte er ein Leben ausgelöscht. Ein Leben, das eben erst begonnen hatte. Für ein paar Momente war dieser kleine Junge glücklich gewesen. Selbstvergessen hatte er mit seinem Ball gespielt, ohne an den Krieg zu denken, der um ihn herum tobte. Das Spiel hatte ein abruptes Ende gefunden, genauso wie seine Existenz, als er auf die Mine getreten war. Wenigstens hatte das Kind nicht leiden müssen. Doch welchen Schmerz hatte er damit über dessen Eltern gebracht? Zumindest war ihr Kummer nicht von langer Dauer, denn der Plan sah vor, dass sie beide noch am selben Tag bei einem Angriff der Rebellen den Tod finden würden. Blieb die Frage, was mit ihrer kleinen Tochter geschehen sollte. Sie war gerade mal zwei Jahre alt. Sollte sich das Schicksal gnädig erweisen und sie am Leben lassen? War es gnädig, in diesem Gebiet als Waise aufzuwachsen? Oder war es weitaus gnädiger, wenn sie ebenfalls den Tod fand? Immerhin musste er sich an den Plan halten.
Er hasste diese Gedanken. Er hasste diesen Job. Er hasste einfach alles daran.
Wieso war er ständig nur im Kriegsgebiet eingesetzt, wo er die Menschen täglich tödlichen Gefahren aussetzen musste? Er wusste gar nicht, wie lange das bereits seine Aufgabe war. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Vermutlich war es das sogar. Natürlich durfte er auch für bessere Schicksale verantwortlich sein. Wie etwa für das Mädchen, das haarscharf an einer Mine vorbeilief und nie wissen würde, wie nah es einer Katastrophe gekommen war. Oder das junge Paar, das sich beim Aufräumen der Trümmer begegnet war und sich sofort ineinander verliebt hatte. Sie hatten den Entschluss gefasst, gemeinsam aus der gefährdeten Gegend zu fliehen, und er hatte beschlossen, sie unbehelligt ziehen zu lassen. Wenigstens diese jungen Menschen sollten ihr Glück finden.
Er machte sich auf die Suche nach seinem Boss. Hoffentlich traf er ihn in guter Stimmung an.
»Nanu, was willst du denn hier?«
»Ich ... ich ...« Er fasste sich ein Herz. »Ich möchte ein anderes Einsatzgebiet.«
»So so. Und warum?«
»Ich will nicht immer nur für das Schicksal von Menschen verantwortlich sein, die in Kriegsgebieten leben.«
»Aber die Menschen haben nun mal Krieg. Jedes Schicksal muss geschrieben werden.«
»Das weiß ich. Aber es geht mir an die Nieren, ständig Tod und Schmerz zu verbreiten.«
»An die Nieren? Ich wusste gar nicht, dass du welche hast.«
Sein Chef nahm ihn nicht ernst. Sollten sich Engel wirklich über ihresgleichen lustig machen dürfen? Nun ja, vermutlich konnte auch der oberste Schicksalsengel sein Los nur mit Humor ertragen.
»Kann ich nicht einfach einen Personenkreis haben, dem es gut geht?«
»Den gibt es nicht.«
»Du weißt, was ich meine. Normale Menschen, die nicht täglich vom Krieg bedroht sind, sondern sich nur mit ihren ganz gewöhnlichen Problemen herumschlagen müssen.«
»Und welchen deiner Kollegen soll ich abziehen und ihm deine Aufgabe zuweisen?«
Er seufzte. »Am liebsten würde ich gar kein Schicksalsschreiber sein«, murmelte er.
»Und was willst du dann?« Sein Chef musterte ihn ernst.
»Ich weiß nicht.« Sollte er wirklich mit seinem Wunsch herausrücken? Vielleicht war jetzt seine Chance. »Ich würde gern mal auf die Erde gehen.«
»So, auf die Erde.«
»Ja, ich meine, ich schreibe das Schicksal der Menschen, aber ich war noch nie dort. Ich würde sehr gerne persönliche Erfahrungen sammeln.«
»Und wie stellst du dir das vor?«
»Ich weiß nicht.« Sein frisch gefasster Mut verließ ihn. Vermutlich war es gar nicht möglich, dass ein gewöhnlicher Schicksalsschreiber auf die Erde durfte. Er war ja nicht einmal ein Schutzengel.
»Als was möchtest du denn auf die Erde?« Da war er wieder, dieser listige Unterton.
»Als Mensch.« War das nicht klar?
»Als Mann oder als Frau?«
Die Frage brachte ihn aus dem Konzept. »Als Mann«, sagte er nach einigen Momenten. Das kam seinen Gefühlen am nächsten.
»Gut. Deine Bitte sei dir gewährt. Zumindest für eine beschränkte Zeit.«
»Wirklich?« Er konnte es gar nicht glauben. »Und was ist mit meiner Arbeit hier?«
»Es gibt immer Neuanwärter, die eine Aufgabe brauchen. Also wie ist es? Da ist ein Unfallopfer, dessen Körper du übernehmen könntest.«
»Einen Körper übernehmen?«
»Wie hast du es dir sonst vorgestellt? Als neue Seele auf die Welt zu kommen?«
»Nein.« Ehrlich gesagt hatte er sich gar nichts vorgestellt. Aber ein Unfallopfer?
»Die Seele wird bereits abgeholt. Du musst dich schnell entscheiden, sonst ist der Körper tabu.«
»Ich mache es. Danke.«
1
Es war dunkel. Wo war er nur gelandet? Dumm, dass er seinen Chef nicht gefragt hatte, in welcher Ecke der Welt sich das besagte Unfallopfer befand. Er spürte das einengende Gefühl eines Körpers. Doch wer war er? Ein Kind, ein junger Mann, ein alter Mann? Er hörte Lärm um sich herum, konnte jedoch keine Geräusche identifizieren. Wie konnte er diese Dunkelheit durchdringen?
Ach ja, er könnte die Augen öffnen. Das war eine hervorragende Idee. Doch seine Lider bewegten sich nicht. Auch gut. Er hatte sowieso zuerst etwas Wichtigeres zu tun. Er musste das Herz wieder in Gang bringen, sonst war sein Aufenthalt hier nur von sehr kurzer Dauer. Er fühlte bereits, wie er sich von der fleischlichen Hülle löste. Das durfte er nicht zulassen.
Sein Körper zuckte heftig zusammen. Aua! Das hatte weh getan. Das war also Schmerz. Kein schönes Gefühl. Jede Faser in seinem Inneren begann zu brennen. Was hatte er sich da nur angetan? Aber einen positiven Nebeneffekt gab es. Das Herz nahm seine Tätigkeit wieder auf.
»Wir haben ihn«, hörte er eine Stimme. Welche Sprache war das? »Schnell in den Rettungswagen mit ihm.«
War das Deutsch? Ja, jetzt konnte er die Worte erkennen. Er befand sich also in einem deutschsprachigen Land. Sehr gut. Damit konnte er leben. Hauptsache, weit weg vom Krieg.
Er fühlte, wie man ihn auf eine Trage legte und diese bewegte. Er versuchte einen flachen Atemzug und genoss das Gefühl, als sich seine Lunge mit Luft füllte. Er war jetzt tatsächlich ein Mensch. Konnte er nun seine Augen öffnen? Es funktionierte. Die Welt war verschwommen, doch er konnte seine Umgebung erkennen. Aus den Augenwinkeln sah er, dass eine Nadel in seinem Arm steckte. Ein junger Mann hantierte mit einem Infusionsbeutel und eine etwas ältere Frau legte ihm eine Manschette um den Arm.
»Hallo«, sagte sie lächelnd, als sie sah, dass er die Augen geöffnet hatte. »Ich bin Katrin. Wie heißen Sie?«
Er hatte keine Ahnung. Er wusste nichts von diesem Körper. Absolut nichts.
»Können Sie mir antworten?«, fragte Katrin mit besorgter Stimme. »Wissen Sie, wie Sie heißen?«
Panik erfasste ihn. Sprechen? Wie funktionierte das? Er hatte Stimmbänder. Doch wie benutzte man sie? Nur ein seltsamer Laut kam aus seiner Kehle. Sein Herz begann heftig zu klopfen.
»Ganz ruhig.« Katrin tätschelte seinen Arm. »Strengen Sie sich nicht an. Sie hatten einen Unfall. Wir bringen Sie jetzt ins Krankenhaus.«
Er hörte die Sirene und spürte die Geschwindigkeit, mit der die Ambulanz über die Straßen schoss. War er so schwer verletzt? Nun ja, sein Vorgänger war gestorben, die Antwort hieß also vermutlich ja. Er schob das Problem mit dem Sprechen zur Seite und horchte in sich hinein.
Und da waren sie, die Schmerzen. Sie pulsierten mit jedem Schlag seines neuen Herzens und raubten ihm den Atem. So hatte er sich sein Leben auf der Erde nicht vorgestellt. Dagegen musste er unbedingt etwas tun.
Sein Kopf dröhnte so schlimm, dass er kaum einen vernünftigen Gedanken fassen konnte. Das war bestimmt nicht normal. Sein Hinterkopf fühlte sich klebrig an. Er konzentrierte sich auf die Stelle, gerade als Katrin sich daran zu schaffen machte.
»Seltsam, sein Kopf ist voller Blut«, flüsterte sie ihrem Kollegen zu, »aber die Verletzung ist eher klein. Ich hatte einen Schädelbruch erwartet.«
»Wer weiß, wie es drin aussieht«, gab der junge Sanitäter ebenso leise zurück. »Das sollen die Ärzte feststellen.«
Ein Schädelbruch? Nicht schön. Aber er war sicher, dass er den soeben repariert hatte. Gerade noch rechtzeitig. Er holte tief Luft, doch dabei hätte er fast aufgeschrien. Bei jedem Atemzug fuhr ein stechender Schmerz durch seinen Brustkorb, der kaum auszuhalten war. Die Rippen? Es fühlte sich an, als wäre jede Einzelne gebrochen.
Er befasste sich mit dem Zentrum des Schmerzes und nach einer Weile verebbte er. Gut, das hatte auch geklappt. Wie verhielt es sich mit den Organen? Die Lunge sah schlimm aus. Aber das kam nicht von dem Unfall. Sie war viele Jahre lang mit Teer und Nikotin malträtiert worden. Der Mann war Raucher gewesen. Warum tat eine Seele sich so etwas freiwillig an? Egal, auch das konnte er reparieren. Er war nicht gewillt, sich in seiner kurzen Zeit auf der Erde mit einem zerstörten Körper herumzuschlagen.
Systematisch ging er den ganzen Leib durch. Er stoppte innere Blutungen und reparierte Brüche, Organe und Gefäße. Es gab viel zu richten in diesem Mann und er schaffte nicht alles, bis der Rettungswagen vor der Notaufnahme hielt.
Er blendete die Aktivitäten um sich herum aus. Sein Kopf schmerzte immer noch. Allerdings bei weitem nicht mehr so heftig wie zuvor. Er konnte dort ja zusätzliche Energie zuführen. Später. Er war so müde. Eine Empfindung, die er nicht kannte. Er würde viel lernen müssen in seiner Zeit auf der Erde. Vielleicht war sein Entschluss doch etwas vorschnell gewesen.
»Herr Kronburg? Hören Sie mich? Herr Kronburg!«
War das sein Name? Woher kannte das Rettungspersonal ihn? Er blinzelte. Seine Umgebung verschwamm immer noch vor seinen Augen. Hektische Aktivität begann um ihn herum. Jemand schnitt ihm das Hemd vom Leib und er wurde an Geräte angeschlossen, die unablässig piepten. Er wollte das nicht, so war sein Aufenthalt auf der Erde nicht geplant gewesen. Er hatte absolut keine Lust, seine Zeit im Krankenhaus zu verbringen. Ein heftiger Widerwille erfasste ihn. War es möglich, seinen Entschluss zurückzunehmen?
»Was willst du hier?«
»Ich habe es mir anders überlegt. Ich glaube, ich will doch nicht auf die Erde.«
»Du glaubst?«
»Der Körper, den ich übernommen habe, ist im Krankenhaus. So sollte es nicht sein.«
»Wie dann? Hast du gedacht, wir könnten einfach die Seele eines lebenden Menschen gegen dich austauschen?«
»Nein, aber ...«
»Einen bereits verlassenen Körper zu übernehmen war die einzige Möglichkeit. Du musst dich eben mit den Folgen arrangieren. Aber entscheide dich schnell. Solange du hier bist, ist dein Körper tot. Und das hält er nicht lange durch.«
»Habe ich denn wieder eine Seele?«
»Du bist ein Engel.«
»Das war nicht meine Frage.«
»Aber das ist meine Antwort.«
Was sollte er nur tun? Er hatte auf eine Alternative gehofft, doch er sah ein, dass man keine lebende Seele aus ihrem Körper vertreiben konnte, um Platz für ihn zu schaffen. Wenn er die Erde sehen wollte, musste er sich mit den Verletzungen seines Wirts arrangieren. Das Leben als Mensch hautnah kennenzulernen, reizte ihn nach wie vor. Es war doch egal, wenn der Start ein wenig holprig war.
Sein Chef beobachtete ihn abwartend.
Er nickte. »Ich gehe zurück.«
Sein Schädel brummte. Er musste unbedingt etwas gegen diese Kopfschmerzen tun. Mit einiger Konzentration gelang es ihm, aber sein Sichtfeld blieb verschwommen. Er konnte klar erkennen, was vor ihm war, doch je weiter die Gegenstände entfernt waren, umso schlechter sah er sie. Waren seine Augen bei dem Unfall verletzt worden?
Er stöhnte, als ihm die Lösung dämmerte. Sein neues Ich war schlicht und einfach kurzsichtig. Er korrigierte die Fehlsichtigkeit. Das war schon besser.
Er sah sich um. Er lag in einem Bett in einem Einzelzimmer. In seiner Hand steckte immer noch eine Infusionsnadel und ein Monitor zeichnete seinen Blutdruck und die Herztöne auf. Die Töne seines Herzens. Er hing dem Gedanken nach. Er hatte ein Herz. Er hatte einen Körper. Er war ein Mensch. Er wusste nicht, wie viel Zeit ihm hier gewährt wurde, aber er würde sie voll auskosten.
Er räusperte sich. Und noch einmal. Die Sprache selbst war kein Problem, die Worte zu formulieren, schon. Er versuchte zuerst, einzelne Laute zu erzeugen. Gut, dass er allein im Zimmer war. Seine Bemühungen, vernünftige Silben herauszubringen, hätte sicher jeden anderen befremdet. Oder amüsiert.
Nach ein paar Minuten hatte er den Dreh raus. Die Worte hörten sich nicht mehr an wie ein undefiniertes Grunzen, sondern waren verständlich. Er sprach einige Sätze und war mit dem Ergebnis zufrieden. Aufatmend lehnte er sich zurück. Jetzt war er für die Begegnung mit dem Krankenhauspersonal gewappnet.
Wie aufs Stichwort klopfte es kurz an der Tür, dann trat ein Arzt in Begleitung einer Schwester ein. Die Namensschilder kennzeichneten sie als Dr. Mayer und Schwester Sigrid.
Der Arzt lächelte, als er sah, dass er wach war. »Sie haben uns einen schönen Schrecken eingejagt, Herr Kronburg«, sagte er. »Wir mussten Sie zweimal wiederbeleben. Einmal direkt nach dem Unfall und dann hier, als Sie eingeliefert wurden. Aber seitdem schlägt Ihr Herz gut und kräftig.«
»Was ist passiert?«, fragte er. Seine Stimme klang immer noch rau und merkwürdig in seinen Ohren.
»Woran erinnern Sie sich?«, gab der Arzt zurück.
Ich bin vom Himmel auf die Erde gekommen, um den Körper dieses Unfallopfers zu übernehmen. Nein, keine gute Idee, wenn er nicht die psychiatrische Abteilung kennenlernen wollte. Zum Glück konnte er trotzdem bei der Wahrheit bleiben.
»An gar nichts.«
»Aber Sie wissen, wer Sie sind?« Der Arzt trat näher.
»Nein. Aber anscheinend heiße ich Kronburg.«
»Ja. Jonas Kronburg. Das wissen wir von Ihrem Ausweis.«
»Ihre Sachen sind hier im Schrank«, schaltete sich Schwester Sigrid ein. »Ihr Hemd war nicht mehr zu retten, aber den Rest finden Sie dort.«
Der Arzt warf ihr einen ungeduldigen Blick zu. »Woran können Sie sich erinnern?«, wandte er sich wieder an seinen Patienten.
»An überhaupt nichts.« Jonas. Der Name war nicht übel. Jetzt hieß er also Jonas.
»An gar nichts? Wissen Sie, welchen Tag wir haben?«
»Montag.«
»Welches Datum?«
»Der vierundzwanzigste Juni zweitausendneunzehn.«
»Na also.« Das Gesicht des Arztes hellte sich auf. »Dann ist doch schon mal nicht alles verloren.«
Er nickte nur. Mit den Zeitrechnungen der Erde kannte er sich natürlich aus. Es würde aber die einzige Information bleiben, die er geben konnte.
»Können Sie mir sagen, wo Sie vor dem Unfall waren?«
»Nein. Es ist alles völlig blank.« Und das war absolut nicht gelogen.
Der Arzt leuchtete ihm mit einer kleinen Taschenlampe in die Augen und nickte zufrieden. »Eine Amnesie ist nach einem solche Trauma nicht ungewöhnlich. Dabei haben Sie großes Glück gehabt. Wir hatten einen Schädelbasisbruch vermutet, aber das CT ist ohne Befund geblieben. Sie stehen allerdings noch unter Schock. Ich gehe davon aus, dass Ihre Erinnerung bald zurückkehren wird.«
»Was ist denn überhaupt passiert?«
»Sie sind bei Rot auf die Straße gelaufen. Direkt vor einen Kleinlaster.«
Oje. War Jonas Kronburg so dämlich, dass er vor einen Lastwagen lief? Oder hatte er sich umbringen wollen?
»Die Polizei war auch schon hier. Eine Augenzeugin meinte, dass Sie womöglich gestoßen worden sind.«
»Gestoßen?« Das wurde ja immer schöner. Er hatte also Feinde, die ihn umbringen wollten. Es war ein unbehagliches Gefühl, nicht zu wissen, woher ihm Gefahr drohte. Leider würde er der Polizei bei der Aufklärung nicht behilflich sein können.
»Ja. Aber machen Sie sich darüber jetzt keine Sorgen. Das ist Sache der Polizei. Sie kümmern sich nur darum, gesund zu werden.«
»Was fehlt mir denn?«
»Für die Schwere des Unfalls erstaunlich wenig. Ein absolutes Wunder. Ihr fehlendes Erinnerungsvermögen macht mir allerdings Sorgen. Ansonsten sind es hauptsächlich Prellungen und Abschürfungen und eine größere Wunde am Oberschenkel. Nicht mal ein Bruch. Sie müssen einen Wahnsinnsschutzengel gehabt haben.«
»Vermutlich.«
»Ruhen Sie sich aus. Die Schwester sieht nachher noch einmal nach Ihnen.«
Er döste vor sich hin. Die Kopfschmerzen waren verschwunden, seitdem er der Stelle noch einmal Energie zugeführt hatte. Die blauen Flecke und Abschürfungen ließ er allerdings in Ruhe. Genauso wie den langen, geklammerten Riss in seinem Oberschenkel. Die Verletzungen waren unangenehm, aber wenn sie von jetzt auf gleich verheilten, würde das Krankenhauspersonal misstrauisch werden. Immerhin hatte er einen schweren Verkehrsunfall gehabt und war kaum verletzt. Außer, dass sein Herz zweimal stehen geblieben war. Einmal, als Jonas Kronburg gestorben war und zum zweiten Mal, als er sich kurz davongeschlichen hatte. Er musste wirklich aufpassen, was er tat.
Die Schwester hatte ihm zugesichert, seine Angehörigen zu verständigen. Als er angeführt hatte, dass er weder mit einer Adresse noch einer Telefonnummer, geschweige denn mit einem Namen dienen konnte, hatte sie nur milde gelächelt und gemeint, das wäre kein Problem. Gerade so, als würde sie den Namen Kronburg kennen. War er etwa ein Prominenter? Hoffentlich nicht. Die Schwester hatte von Angehörigen gesprochen. Ihm dämmerte, dass sein Plan, sich auf der Erde umzusehen, ohne sich in irgendwelche Abhängigkeiten zu begeben, vermutlich nicht so einfach war.
Es klopfte an der Tür. Neugierig sah er den zwei Polizisten entgegen, die sein Zimmer betraten.
»Ich hoffe, wir stören Sie nicht, Herr Kronburg«, sagte der ältere der beiden Beamten. »Aber wir würden gerne Ihre Aussage zu dem Unfall aufnehmen.«
»Ich fürchte, da kann ich Ihnen keine Hilfe sein. Ich erinnere mich an nichts.«
»An gar nichts?«
»Nein.«
»Wo kamen Sie denn her?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nicht mal, wo der Unfall passiert ist.«
»Sie wurden von einem Kleinlaster erfasst, als Sie die Cäcilienstraße überqueren wollten. Die Fußgängerampel zeigte Rot.«
»Dr. Mayer erwähnte das bereits.«
»Eine Augenzeugin, die auf die Ampel zulief, sagte aus, Sie wären auf die Straße getorkelt, als ob Sie gestoßen worden wären.«
»Oder betrunken waren«, warf der jüngere Mann ein.
»Ihr Blutspiegel wies jedoch keinerlei Alkohol- oder Drogeneinfluss auf.«
»Sie meinen wirklich, ich bin von jemandem vor den Verkehr gestoßen worden?«
»Nun ja, es warteten ziemlich viele Menschen an der Ampel. Vielleicht haben Sie im Gewühl einfach einen Rempler bekommen, der Sie auf die Straße befördert hat.«
»Das erscheint mir deutlich plausibler, als dass mich jemand umbringen wollte.«
»Uns auch, aber wir hatten gehofft, dass Sie uns Einzelheiten sagen können.«
»Es tut mir sehr leid, aber ich erinnere mich wirklich an absolut nichts.« Das war die reine Wahrheit. Jonas Kronburgs Leben war für ihn ein Buch mit sieben Siegeln.
Die beiden Männer sahen sich ratlos an. »Dann nehmen wir einfach mal ein Protokoll auf und beginnen die Ermittlungen. Vielleicht können wir noch ein paar Zeugen auftreiben. Sie melden sich, sobald Ihr Gedächtnis zurückkehrt. Vielleicht erinnern Sie sich dann ja, ob Sie zielgerichtet gestoßen oder nur versehentlich geschubst wurden.«
»Klingt nach einem guten Plan. Es ist wirklich ein merkwürdiges Gefühl, sich an nichts zu erinnern.«
Die Beamten waren sehr verständnisvoll und wünschten ihm noch gute Besserung, bevor sie abzogen. Mit ziemlich leeren Händen, wie er zugeben musste.
Er läutete nach der Schwester. »Können Sie mich mal von diesem ganzen Zeug befreien?«, bat er sie mit einem Nicken zu dem Infusionsständer und dem Monitor. »Ich müsste mal wohin.«
Die Schwester lachte. »Die Infusion müssen Sie mitnehmen. Aber Ihrer anderen Bitte kann ich nachkommen. Soll ich Ihnen ins Badezimmer helfen?«
»Nein, danke. Ich denke, das geht.«
»Läuten Sie, wenn es Ihnen schwindlig wird. Neben der Toilette ist ein Rufknopf.«
Er nickte, doch er würde bestimmt nicht um Hilfe klingeln. Wie sollte er der Schwester erklären, dass er noch nie auf dem Klo war und nur theoretische Ahnung hatte, was da zu tun war? Er schob den Infusionsständer vor sich her und schlurfte zu dem kleinen Badezimmer in der Ecke. Seine ersten Schritte auf der Erde. Vielleicht sollte er seine Füße etwas mehr anheben. Aber ansonsten ging es recht gut.
Sein Herz klopfte vor Aufregung, als er sich im Spiegel sah. Das war Jonas Kronburg. Das war er. Etwa Mitte dreißig, mit kurzen blonden Haaren und grünen Augen. Das Gesicht war sorgfältig rasiert und sah irgendwie pedantisch aus. Das bildete er sich aber womöglich nur ein.
»Wer bist du?«, fragte er sein Spiegelbild. Es war die falsche Fragestellung. »Wer warst du?«, korrigierte er sich. Denn nun war er Jonas Kronburg. Er würde diesen Körper mit neuem Leben füllen.
»Jonas.« Langsam ließ er den Namen über die Zunge rollen. »Ich bin Jonas.« Sein Spiegelbild lächelte ihm entgegen. Mit diesem Körper konnte er durchaus etwas anfangen.
Er schob den Infusionsständer aus dem Weg und wandte sich der Toilette zu. Wie funktionierte das nun?
Er war froh, als er wieder im Bett lag. Zwar hatte er den Körper repariert, aber die Anstrengung wirkte noch in ihm nach. Morgen würde es ihm besser gehen. Hoffentlich brachte ihm dann jemand etwas zum Anziehen. Das Krankenhaushemd, das er trug, war alles andere als salonfähig. Doch zum Glück hatte man Jonas zumindest seine Boxershorts gelassen. Er sollte wirklich aufhören, von sich selbst in der dritten Person zu denken. Er war jetzt Jonas. Warum war eigentlich noch niemand gekommen? War es nicht normal, dass man sofort zu einem verunglückten Angehörigen ins Krankenhaus eilte?
»Haben Sie meine Familie erreicht?«, fragte er ins Blaue, als Schwester Sigrid ihm ein Tablett mit Essen brachte.
»Ich habe Ihrer Frau auf den Anrufbeantworter gesprochen. Sie hat leider nicht abgenommen.«
Seiner Frau. Interessant. Er war also verheiratet. Er war sich nicht sicher, ob ihm diese Information gefiel oder nicht. Er bedankte sich bei Schwester Sigrid und wandte sich dem Tablett zu. Darauf stand eine kleine Portion Wurstsalat mit zwei Scheiben Toast und eine Tasse Tee. Sein erstes Essen. Vorsichtig kostete er. Das schmeckte gut. Es war doch nicht so schlecht auf der Erde. Er musste sich nur zurechtfinden.
Nachdem der Überwachungsmonitor am Abend aus dem Zimmer gerollt worden war, wagte er es, sich in der Nacht erneut davonzuschleichen. Es würde hoffentlich niemand in genau dieser Minute seinen Schlaf überprüfen und merken, dass er tot war. Aber er musste noch einmal mit seinem Chef sprechen.
»Du schon wieder? Was willst du denn noch?«
»Ich brauche Anweisungen. Wie soll ich mich auf der Erde verhalten? Jonas Kronburg ist verheiratet und hat eine Familie. Soll ich sein Leben weiterführen als wäre ich er?«
»Das ist deine Entscheidung. Wir haben dir nur den Körper zur Verfügung gestellt. Was du damit machst, ist deine Sache.«
»Aber ich kann doch nicht einfach das Leben eines Anderen fortsetzen.«
»Und was willst du sonst tun? Allen erzählen, dass Jonas Kronburg bei dem Unfall gestorben ist und du ein Schicksalsschreiber aus dem Himmel bist, der das Leben auf der Erde kennenlernen möchte?«
»Ich glaube nicht, dass das eine Option ist.«
»Das ist gewiss keine Option. Du kannst natürlich hierbleiben und weiter deiner Arbeit nachgehen.«
»Was passiert dann mit Jonas?«
»Er stirbt im Krankenhaus. Es wird den Ärzten zwar ein Rätsel sein, aber irgendeine Erklärung werden sie sich für den Befund schon zurechtzimmern. Aber diese Unterhaltung hatten wir schon einmal. Du kannst nicht ständig zurückkommen, wenn du Zweifel oder Fragen hast. Du bist jetzt ein Mensch, der seine Probleme alleine lösen muss. Entscheide dich jetzt. Bleib oder geh. Aber wenn du gehst, dann komm nicht zurück, bis du gerufen wirst.«
Er hatte Angst davor, seine Ehefrau und seine Familie kennenzulernen. Wenn er sie nun nicht mochte? Wie konnte er Jonas Kronburg sein, ohne irgendetwas von dem Mann zu wissen? Er war unsicher, ob sein Vorhaben überhaupt funktionieren konnte. Natürlich hatte er die Option, den Ausflug als Irrfahrt abzutun und wieder in seinen Job zu gehen. Aber weiterhin Schicksale im Kriegsgebiet schreiben?
Das wollte er auf keinen Fall tun. Dann doch lieber die Ungewissheit auf der Erde.
»Ich gehe«, sagte er leise.
»Hoffentlich zum letzten Mal«, nickte sein Chef.
2
Er hatte gut geschlafen. Auch das war eine neue Erfahrung für ihn. Schlafen. Im Himmel gab es dafür keine Notwendigkeit. Aber menschliche Körper brauchten Erholung, egal, wer in ihnen wohnte.
Das Frühstück bestand aus zwei Brötchen, etwas Butter, zwei Scheiben Käse und einem Klecks Marmelade. Dazu bekam er Kaffee, an dem er sich erstmal die Zunge verbrannte. Oh ja, Kaffee war heiß. Daran hätte er denken müssen. Aber nachdem er alle Verletzungen heilen konnte, war das kein Problem.
Er schielte zum Schrank hinüber. Ob er in Jonas’ Sachen etwas Verwertbares finden konnte, das ihm sagte, wer er jetzt war? Er stand auf und versuchte vergeblich, das Krankenhaushemd über seinen nackten Rücken zu ziehen. Dann eben nicht. Im Schrank lag eine dunkle Anzugshose, deren rechtes Hosenbein zerrissen war und die etliche Blutflecken aufwies. Wenn die Schwestern gedacht hatten, dass diese Hose noch zu retten war, wie musste dann das Hemd ausgesehen haben? Nachdenklich verweilte sein Blick auf der Hose. Anzug. War das sein Stil? Die Schuhe sahen auch reichlich teuer aus. Anscheinend musste er sich keine Sorgen darüber machen, wie er seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte.
Er öffnete die Brieftasche und zog einen Ausweis hervor. Ein Gesicht mit einem strengen Seitenscheitel sah ihm entgegen. Sogar auf dem Passbild war zu erkennen, dass jedes einzelne Haar perfekt saß. Im April war er fünfunddreißig geworden. Und er hatte jetzt zumindest eine Adresse. Anscheinend wohnte er in Köln. Damit konnte er sich arrangieren.
In einem anderen Fach steckten einige Visitenkarten. Königlich reisen mit Kronburg, stand darauf, und über dem Namen befand sich eine große Krone. Es sah schick aus. Sicher kein schlechter Werbespruch. Besaß seine Familie ein Reiseunternehmen?
Er suchte nach Fotos, die ihm Aufschluss über seine Angehörigen geben könnte, wurde jedoch nicht fündig. Nur ein kleiner Zettel mit vier Zahlen steckte unter seinem Personalausweis. Das Smartphone, das neben seinen Sachen lag, konnte ihm auch nicht weiterhelfen. Das Display war komplett zertrümmert. Nicht, dass er gewusst hätte, wie man das Ding bediente. Wieder stellte er fest, dass sich theoretisches Wissen gründlich von der Praxis unterschied.
Auch die Armbanduhr war kaputt. Schade drum. Es war eine Rolex. Jonas schien wirklich Geld gehabt zu haben. Er schüttelte missbilligend den Kopf. »Ich scheine Geld zu haben«, murmelte er vor sich hin und betonte das Wort »Ich«. Es war Zeit, dass er begann, sich als Jonas zu sehen. »Ich bin Jonas Kronburg.«
Wenigstens der Schlüsselbund war intakt. Interessiert betrachtete er die einzelnen Schlüssel. Den Autoschlüssel identifizierte er sofort, doch wofür waren die anderen alle? Haustür, Firma, Garage? Die Möglichkeiten waren schier endlos.
Er sah auf, als eine Schwester eintrat und ihm mitteilte, dass er zu weiteren Untersuchungen erwartet würde. Sie brachte ihm einen alten Bademantel, den anscheinend jemand zurückgelassen hatte und ihm etwas zu klein war. Aber er verdeckte zumindest seine Rückseite.
Die Ergebnisse waren allesamt unauffällig. Die Ärzte konnten sich seinen Gedächtnisverlust nicht erklären, bescheinigten ihm aber den Umständen entsprechend eine gute Gesundheit. Dr. Mayer sah ihn fragend an, während er die Unterlagen studierte. »Hatten Sie vor einiger Zeit schon mal einen schlimmen Unfall?«
»Wieso fragen Sie?«
»Es sieht aus, als wären fast alle Rippen schon einmal gebrochen gewesen. Die Brüche sind aber gut verheilt.«
»Ich kann mich nicht erinnern, einen früheren Unfall gehabt zu haben.« Gut umschifft. Wie hätte Dr. Mayer wohl geschaut, wenn er erfahren hätte, dass die Brüche tatsächlich vom Vortag stammten?
»Diese Gedächtnisstörung macht mir Sorgen«, meinte der Arzt. »Wir wissen nicht, woher sie kommt. Ihr Kopf ist absolut in Ordnung. Es ist ein Wunder, dass Sie den Zusammenprall mit dem Fahrzeug so gut wie unbeschadet überstanden haben. Vermutlich war der Wagen nicht so schnell unterwegs, wie man meinen möchte und hat Ihnen nur einen kleinen Schubs gegeben. Die Amnesie kommt sicher nur von dem Schock und wird sich bald auflösen. Kommen Sie in zehn Tagen zurück, damit wir die Klammern aus Ihrem Oberschenkel entfernen können. Wenn Sie eine Entzündung feststellen, natürlich entsprechend früher. Falls Ihr Gedächtnis dann noch nicht zurückgekehrt ist, könnten wir Sie einem Psychiater vorstellen, der abklärt, ob die Amnesie vielleicht mentale Gründe hat.«
Auch ein Psychiater würde ihm nicht helfen können, das Gedächtnis einer anderen Seele zurückzuerlangen. Er kannte die Ursache seiner Amnesie, doch das konnte er dem Arzt nicht sagen. Also nickte er nur pflichtschuldig.
»Wann kann ich denn nach Hause?«, wollte er wissen.
»Es gibt keinen Grund, Sie noch länger hierzubehalten. Haben Sie schon von Ihren Angehörigen gehört?«
»Schwester Sigrid hat meiner Frau auf den AB gesprochen.«
»Gut. Dann ruhen Sie sich einfach noch etwas aus, bis sie kommt. Eine Schwester bringt Ihnen nachher die Entlassungspapiere.«
Jonas verabschiedete sich von Dr. Mayer und suchte wieder sein Zimmer auf. Als er eintrat, blieb er überrascht stehen. Auf einem der zwei Stühle saß eine junge Frau. Eine sehr hübsche junge Frau mit schulterlangen schwarzen Haaren, dezent geschminkten Lippen und knallrot lackierten, gepflegten Fingernägeln. Sie drehte sich um, als er eintrat und lächelte. »Hallo, mein Schatz.« Sie stand auf und umarmte ihn. »Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt. Ich bin gestern Abend erst spät heimgekommen und habe den AB erst heute früh abgehört.«
Jonas nickte. Er traute sich nicht, die Umarmung zu erwidern. Diese Frau war eine Fremde für ihn. Sie war ihm zwar sympathisch, aber zuerst wollte er mehr über sie erfahren.
»Ich hatte dich früher erwartet.« Er bemühte sich, seine Stimme nicht vorwurfsvoll klingen zu lassen.
»Ich musste noch einen wichtigen Abschluss fertig machen. Die Schwester sprach mir auf den AB, dass du einen Unfall hattest. Ich bin so froh, dass dir anscheinend nichts passiert ist. Was ist denn überhaupt geschehen?«
»Ich bin an einer Ampel vor den fahrenden Verkehr gestolpert. Die Polizei ist sich nicht sicher, ob ich gestoßen oder nur im allgemeinen Gedränge geschubst worden bin.«
Seine Frau zog die akkurat gezupften Augenbrauen hoch. »Gestoßen? Wer sollte dich auf die Straße stoßen?«
»Ich weiß es nicht. Und das ist mein Problem. Ich weiß überhaupt nichts mehr.«
»Was meinst du damit?«
»Ich kann mich an nichts erinnern.«
»Wie der Unfall abgelaufen ist? Oder warum du überhaupt dort warst? Vermutlich wolltest du essen gehen. Es war Mittagspause. Heinz rief mich am Nachmittag auf dem Handy an, weil man dich in der Firma brauchte, und fragte, ob ich wüsste, wo du bist.«
»Wer ist Heinz?«
Seine Frau sah ihn mit leicht geöffnetem Mund an. »Dein Onkel«, meinte sie mit sarkastischem Unterton. »Sag nicht, du erinnerst dich nicht an deine Familie.«
»Ich erinnere mich an gar nichts mehr. Auch nicht an dich. Tut mir leid. Ich habe keine Ahnung, wer du bist.«
»Was?« Jetzt wich die Ironie deutlicher Besorgnis. »Ich bin deine Frau, Ilona. Das kannst du doch nicht vergessen haben.«
»Ich weiß überhaupt nichts mehr. Man sagte mir hier, dass ich Jonas Kronburg heiße und von meinem Ausweis kenne ich ein paar persönliche Daten. Aber das ist alles.«
Ilona starrte ihn fassungslos an. »Du verkohlst mich doch.«
»Ich wünschte, es wäre so.« Er wünschte sich wirklich, etwas mehr zu wissen. Es musste schwer für sie sein, zu erfahren, dass ihr Mann sie nicht mehr kannte.
»Gar nichts? Du weißt überhaupt nichts mehr?« In ihrer Stimme war ein leichter Anflug von Panik zu hören.
Jonas schüttelte den Kopf. »Es ist, als wäre ich frisch geboren.«
»Na, immerhin kannst du schon reden und laufen.« In Ilonas Augen standen Tränen. »Entschuldige.« Ihre Stimme zitterte, als sie aufsah. »Das ist gerade ein bisschen viel für mich. Davon hat mir niemand erzählt.«
Jonas griff nach ihrer Hand. »Es tut mir wirklich leid.«
»Kommt dein Gedächtnis zurück?«
Was sollte er sagen? Ein Nein war zu brutal, außerdem würde Ilona wissen wollen, woher er die Gewissheit nahm. »Vielleicht«, meinte er vage.
»Was sagen denn die Ärzte?« Sie klang bereits wieder energischer. »Kann ich mit ihnen sprechen?«
»Das hat nicht viel Sinn. Es ist alles gesagt. Ich kann im Moment nur abwarten.«
Sie nickte und musterte ihn, als würde sie nach einem Erkennen in seinen Augen suchen. »Unfassbar.«
»Kannst du mir denn erzählen, wer ich bin?«
Ilona verbarg das Gesicht in ihren Händen. »Du bist Jonas Kronburg«, sagte sie leise. »Fünfunddreißig Jahre alt und Inhaber von Kronburg Reisen, einem angesehenen Busunternehmen. Dein Vater hat es gegründet und bis zu seinem Tod vor vier Jahren geleitet. Dann ging es auf dich über. Dein Onkel Heinz und sein Sohn Oliver arbeiten eng mit dir zusammen, dein jüngerer Bruder Philipp ist als Busfahrer mit im Betrieb. Ansonsten hast du noch etliche Angestellte.«
»Danke. Ich würde aber gerne mehr über uns erfahren. Wann haben wir uns kennengelernt?«
Ilona zögerte lange. »Ich fasse es nicht, dass du mich nicht erkennst. Wir sind seit sieben Jahren verheiratet. Kennengelernt haben wir uns vor neun Jahren, als du ein Auto bei mir gekauft hast.«
»Du verkaufst Autos?«
»Ich bin bei einem großen Mercedes-Autohaus beschäftigt.«
Jonas nickte. Für den Moment reichte ihm das an Informationen. Er wollte Ilona nicht überfordern. Sie musste sich erst an die neue Situation gewöhnen. »Hast du mir etwas zum Anziehen mitgebracht? Ich komme mir ein wenig lächerlich vor.«
Er hatte es geschafft, ihr ein Lächeln abzuringen. »Du siehst auch so aus. So einen Bademantel würdest du nicht mal mit der Kneifzange anfassen.« Mit einem Kopfnicken wies sie auf die kleine Sporttasche, die sie mitgebracht hatte, auf der das Logo der Firma prangte, der Name mit der Krone darüber. »Wo ist denn deine Brille? Es wundert mich, dass du mich überhaupt erkennen kannst.«
»Vermutlich beim Unfall zu Bruch gegangen. Zumindest ist sie nicht da.« Er nickte zum Schrank hinüber. »Auch meine Uhr und mein Handy sind kaputt.«
Ilona öffnete die Schranktür. »Schade um die schöne Rolex. Aber sie ist versichert. Ich werde mich darum kümmern.«
»Danke. Das ist nett von dir. Im Moment bin ich um alles froh, das du mir abnehmen kannst.« Jonas zog den Reißverschluss der Sporttasche auf und holte eine Anzughose, ein beiges Hemd und ein passendes Sakko hervor. »Ist das meine bevorzugte Kleidung?«, fragte er mit einem Stirnrunzeln.
»Du weißt nicht mal, was du gerne anziehst?« Jetzt klang Ilona eindeutig entsetzt. »Eine Amnesie erstreckt sich doch nicht auf die Persönlichkeit, oder?«
»In meinem Fall anscheinend schon.« Jonas nahm die Sachen und verschwand im Badezimmer. Er ließ sich Zeit, um Ilona Gelegenheit zum Nachdenken zu geben. Zeit, die er auch selbst brauchte. Wie sollte es weitergehen? Er konnte keine Firma leiten. Konnte er wenigstens ein Ehemann sein? Er sah auf. Eine wichtige Frage hatte er noch nicht gestellt.
Aus dem Spiegel sah ihm das Gesicht entgegen, das nun ihm gehörte. Mit der Handfläche strich er sich über Kinn und Wangen, die sich etwas stoppelig anfühlten. Der leichte Schatten stand ihm gut. Er fuhr sich kurz durch die Haare und war bereit, Ilona wieder gegenüberzutreten. Sie saß auf einem Stuhl am Fenster und starrte hinaus.
»Haben wir denn Kinder?«, fragte er sie.
Sie zuckte zusammen. »Nein. Kinder lassen sich mit meiner Karriere nicht vereinbaren und du wolltest auch keine.«
Warum nicht? Kinder waren etwas Wunderbares, sie waren die Zukunft der Erde. Aber er war erleichtert. Wie hätte er einem Kind erklären können, dass sich der geliebte Vater nicht mehr an es erinnerte?
»Was ist?«, fragte er, als er Ilonas kritischen Blick bemerkte.
»Deine Haare. Sie sehen so unordentlich aus.«
»Ach ja?« Unwillkürlich strich Jonas sich über den Hinterkopf.
»Du trägst sie streng gescheitelt. Nicht so chaotisch in die Stirn hängend.«
Er erinnerte sich an das Passbild und nickte. »Vielleicht wird es Zeit für Änderungen.«
Ilona zog die Stirn in Falten. »Ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll«, gab sie dann zu. »Ich kenne dich gar nicht wieder.«
»Lass uns einfach nach Hause fahren.« Jonas nahm die Tasche und stopfte seine wenigen Habseligkeiten aus dem Schrank hinein.
»Ich kann dich so doch nicht mitnehmen«, hörte er Ilona hinter sich. »Ich meine, man muss dich doch behandeln.«
»Da gibt es im Moment nichts zu behandeln.« Er schloss die Tasche und drehte sich zu ihr um. »Wir müssen einfach abwarten.«
Ilona machte keine Anstalten, aufzustehen. Sie starrte nur vor sich hin. Als Jonas leicht ihre Schulter berührte, erschrak sie und sah mit einem verlorenen Ausdruck im Gesicht zu ihm hoch.
Sie sprachen nicht miteinander, bis sie auf dem Parkplatz angekommen waren. Jeder hing seinen Gedanken nach.
»Unser Auto?«, entfuhr es Jonas erstaunt, als sie vor einem teuren Mercedes anhielten.
»Meins. Der neuste GLC«, meinte Ilona stolz.
»Ich weiß«, lächelte er.
Sie drehte sich zu ihm um. »Du kennst Autotypen, aber kannst dich nicht daran erinnern, wie du deine Haare trägst?«
»Scheint so. Habe ich auch ein eigenes Auto?«
»Natürlich. S-Klasse.«
Jonas seufzte. Eine Rolex, Mercedes S-Klasse, teure Anzüge. Für ihn wäre eine Stufe weniger genug gewesen. Oder zwei. Hoffentlich konnte er sich an dieses Leben gewöhnen.
»Willst du fahren?« Ilona hielt ihm den Autoschlüssel entgegen.
»Nein, danke.« Er schüttelte den Kopf. Das war auch so eine Sache. Natürlich kannte er die Automarken, er kannte alle Produkte auf der Welt, aber er hatte keine Ahnung, wie man fuhr. Gas, Bremse, Kupplung, Gangschaltung, Blinker, Licht, Scheibenwischer, theoretisch wusste er Bescheid. Und das war das Problem. Es war alles nur Theorie. Das musste er Ilona jetzt allerdings nicht verraten.
Er nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Komfortabel war der Wagen auf jeden Fall.
»Was ist?«, fragte er, als sie keine Anstalten machte, loszufahren, sondern ihn nur abwartend ansah.
»Anschnallen.«
Ach so, ja. Man schnallte sich an. Wie funktionierte das nun wieder? Er griff nach dem Riemen und fingerte am Schloss herum.
»Kannst du denn gar nichts mehr?« Ungeduldig nahm Ilona ihm den Gurt aus der Hand und klinkte ihn ein. »Das kann ja heiter werden.«
War sie genervt? Oder hatte sie Angst? Jonas entschied sich für Letzteres. Sein Zustand musste für sie beängstigend sein. Immerhin brachte sie einen Mann nach Hause, der sie und seine Umgebung nicht mehr erkannte.
»Bist du mir böse?«, fragte er leise.
»Böse?« Sie warf ihm einen kurzen überraschten Blick zu. »Warum sollte ich dir böse sein? Du hast dich ja vermutlich nicht absichtlich vor den Wagen geworfen.« Sie tätschelte seinen Oberschenkel und lächelte gezwungen. »Mach dir nicht allzu viele Sorgen. Wir kriegen das mit deinem Gedächtnis schon hin.«
Jonas nickte erleichtert. »Danke.« Natürlich hoffte sie, dass er sich bald wieder an alles erinnern würde. Nur er wusste, dass dieser Fall nicht eintreten würde. Doch das würde sein Geheimnis bleiben.
Er starrte auf die Straße. Ilona schien ebenfalls keine Lust zu einem Gespräch zu haben. Er konnte es ihr nicht verdenken. Auch sie musste sich auf eine völlig neue Situation einstellen. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass das Verhältnis zwischen den Eheleuten nicht gerade sehr herzlich war. Sie hatte ihn nicht einmal geküsst. Ilona war durch und durch Geschäftsfrau, die vermutlich mehr ihre Karriere als ihre Ehe im Blick hatte. Und Jonas Kronburg? Wie war er gewesen? Freundlich? Liebevoll? Oder auch eher am Geld interessiert? Das sollte er herausfinden, wenn er erfolgreich in dessen Rolle schlüpfen wollte.
»Hast du mich gestern Abend denn gar nicht vermisst?«, fragte er.
»Nein, ich hatte Kopfschmerzen und bin gleich ins Bett gegangen, als ich heimkam. Heute Morgen habe ich mir natürlich Gedanken gemacht, als du nicht da warst, aber da war ja dann die Ansage auf dem AB.« Sie hielt an. »Wir sind da.«
Jonas sah sich um. Ilona hatte in der Einfahrt zu einem weißen Bungalow geparkt. Das Haus war definitiv zu groß für nur zwei Leute. »Wo genau ist ›da‹?«, wollte er wissen.
Sie verdrehte die Augen. »In Lindenthal, einem angesagten Stadtteil in Köln.«
»Wohnen wir hier allein?«
»Natürlich. Wer denn sonst noch?«
»Ich weiß nicht. Unsere Eltern vielleicht? Das Haus wäre groß genug.« Jonas runzelte die Stirn. »Lebt meine Mutter noch?«
»Nein, sie ist vor drei Jahren verstorben. Sie hatte ein Herzleiden.«
Er nickte. Er stieg aus und holte seine Tasche vom Rücksitz. »Kommst du nicht mit?«, fragte er, als Ilona keinerlei Anstalten machte, auszusteigen.
»Nein, ich habe in einer halben Stunde ein wichtiges Meeting. Du brauchst mich doch nicht, um deine Hand zu halten, oder?«
»Nein, aber ich dachte ... Ich meine, das alles ist völlig fremd für mich.«
»Tut mir leid, aber das wusste ich ja nicht. Ich hatte keine Ahnung, dass du heute schon entlassen wirst. Du wirst dich schon zurechtfinden. Und heute Abend kann ich dir alle Fragen beantworten. Mach’s gut, mein Schatz.«
Und fort war sie. Jonas stand in der Einfahrt und fühlte sich verloren. Falls sein Chef ihn so sah, würde er bestimmt amüsiert grinsen. Entschlossen fasste er den Griff der Reisetasche fester und ging auf die Haustür zu.
Doch hier wartete das nächste Problem auf ihn. Die Tür wurde mithilfe eines Touchpads geöffnet. Jonas seufzte tief. Was könnte die Kombination sein? Sein Geburtsdatum vielleicht? Er versuchte verschiedene Verbindungen aus Tag, Monat und Jahr. Nichts funktionierte. Er wusste ja nicht einmal, aus wie vielen Zahlen der Code bestand. Und jetzt? Was sollte er tun? Warten, bis Ilona am Abend zurückkam? Ratlos fuhr er sich durch die Haare.
Am Gartentor kam eine ältere Frau mit einem Foxterrier an der Leine vorbei. »Guten Tag, Herr Kronburg«, rief sie ihm zu. »Waren Sie auf Reisen?«
»Guten Tag. Nein, nur über Nacht im Krankenhaus.«
Die Frau blieb stehen. »Doch hoffentlich nichts Schlimmes?«
»Nein, keine Sorge.«
»Dann ist es ja gut.« Die ältere Dame lächelte ihn an und zupfte kurz an der Leine, worauf der Terrier ihr bereitwillig folgte.
Er musste ins Haus. Ewig hier zu stehen würde die Aufmerksamkeit der Nachbarn wecken. Vielleicht hatte ja jemand einen Ersatzschlüssel? Zum Blumengießen, falls die Kronburgs in Urlaub waren, oder einfach so als Notfall? Aber wie sollte er das herausfinden? Mutlos ließ er die Arme fallen und starrte auf die kleine Reisetasche, in der nichts anderes war als eine Hose, die man entsorgen konnte, ein kaputtes Handy, eine ebenso kaputte Uhr und ein Schlüsselbund. Jonas holte tief Luft. Fast hätte er sich vor die Stirn geschlagen. Kopfschüttelnd zog er den Bund hervor und probierte die Schlüssel durch. Bereits der zweite passte.
»Also ich weiß nicht, wie schlau du früher warst, Jonas«, murmelte er halblaut, als er ins Haus ging. »Aber jetzt bist du anscheinend keine große Leuchte.«
Von der Diele trat er in ein geräumiges Wohnzimmer. Die Panoramafenster, die ihm schon von außen aufgefallen waren, ließen viel Licht in den Raum und machten ihn hell und freundlich. Die Einrichtung war geschmackvoll, aber nicht übertrieben edel. Dafür hingen teure Gemälde an den Wänden. Dekogegenstände fanden sich beinahe keine. Auch nirgendwo Fotos von Familienangehörigen. Vielleicht hielt Ilona sie für Staubfänger. Ob sie selbst putzte? Oder Jonas das getan hatte? Irgendwie hatte er den Eindruck, dass hier eine gute Putzfrau zu Werke ging.
Außer dem Wohnzimmer lagen im Erdgeschoss noch die Küche mit einem Durchgang in ein Esszimmer, eine große Speisekammer, ein Badezimmer und ein Büro, in das er einen kurzen Blick warf. Es war penibel aufgeräumt. An der Wand befand sich ein Regal mit Aktenordnern. Am Computer hing ein gelbes Post-It, das aus der Ordnung hervorstach. Er lächelte, als er die Aufschrift las. Es waren die Zugangs-Codes fürs Online-Banking. Jonas Kronburg schien kein besonders gutes Gedächtnis zu haben. War zu hoffen, dass niemand einbrach und sich dessen ganzes Vermögen aufs eigene Konto überwies. Jonas sah sich weiter um. Kurz vor dem Treppenaufgang in den ersten Stock stand ein altmodisches Telefonschränkchen, das in dem modernen Haus seltsam fehl am Platz wirkte.
Der Anrufbeantworter blinkte. Vielleicht eine wichtige Nachricht? Wie funktionierte das Ding nur? Jonas probierte die Knöpfe durch, bis er den richtigen gefunden hatte.
»Eine neue Nachricht«, verkündete eine blechern klingende Frauenstimme. »Gestern um 16.32 Uhr.« Dann war ein Mann zu hören. »Hey Jonas, hier ist Ulf. Wo steckst du denn? Ich versuche schon seit Mittag, dich zu erreichen. Hast du dein Handy aus? Melde dich doch mal bei mir, wir müssen noch einmal über deinen Fahrer sprechen. Mir sitzt das ein bisschen quer. Ruf mich an, ja?«
Wer war Ulf? Welche Probleme hatte er mit welchem Fahrer? Jonas runzelte die Stirn. Wie konnte er zurückrufen? Er schien mit Ulf gut bekannt zu sein, vielleicht konnte er etwas mehr über sich selbst erfahren.
Er nahm das Telefon aus der Station und studierte es. Eine Taste mit dem Symbol eines Briefumschlages fiel ihm auf. Konnte das auf Nachrichten hindeuten? Er drückte sie und hatte tatsächlich eine Anrufliste vor sich. Na also. Er wählte die oberste Nummer an.
»Rechtsanwälte Voigt und Rebert, guten Tag, was kann ich für Sie tun?«, meldete sich eine weibliche Stimme.
»Guten Tag, Kronburg hier.« Was sollte er denn sagen? Doch die freundliche Dame nahm ihm die Antwort ab.
»Herr Kronburg, das ist nett, dass Sie sich melden. Herr Rebert versucht schon seit gestern, Sie zu erreichen. Aber gerade jetzt ist er im Gericht. Können Sie es in zwei Stunden noch einmal versuchen?«
»Danke, das mache ich.«
»Ich sage ihm, dass Sie angerufen haben.«
Nachdenklich legte Jonas das Telefon zurück. Ein Rechtsanwalt. Was hatte er mit einem Rechtsanwalt zu schaffen?
Er beschloss, das Problem zu vertagen, und wandte sich dem oberen Stockwerk zu. Hier befanden sich drei Schlafzimmer, noch ein Badezimmer und ein weiterer Raum, der eindeutig eine weibliche Handschrift trug.
Das Bad erinnerte ihn daran, dass er noch etwas zu erledigen hatte. Er begab sich auf die Suche nach einer Pinzette. Schnell wurde er in Ilonas Teil der Schränke fündig. Hier stapelten sich Cremes, Make-up-Artikel und feine Parfüms. Ilona schien einiges für ihre Schönheit auszugeben, doch Jonas musste zugeben, dass es anscheinend Früchte trug.
Mit einem leisen Lächeln nahm er eine der Pinzetten, zog seine Hose aus und setzte sich auf den Rand der Badewanne. Er hatte keinerlei Intentionen, die Klammern zehn Tage lang in seinem Oberschenkel zu lassen.
Er legte die Hand auf den Riss und sah zu, wie er sich schloss. Die Klammern ließen sich zum Glück einfach herausziehen. Es ziepte nur etwas. Jonas warf sie in den Mülleimer und betrachtete sein Werk. Dann kümmerte er sich noch um die letzten Prellungen und Abschürfungen. Nun waren alle Folgen des Unfalls beseitigt.
Er sah sich in den Schlafzimmern um. Zwei davon schienen unbenutzt zu sein. Der größte Raum hatte hinter dem Doppelbett einen begehbaren Kleiderschrank. Jonas staunte über die Fülle an Kleidungsstücken. Wie er schon festgestellt hatte, hatte Ilona einen erlesenen Geschmack. Aber auch seine Seite verblüffte ihn. Anzüge, Sakkos, Seidenhemden, Kaschmirpullover, ein halber Meter an Platz war für Krawatten reserviert. Unwillkürlich griff er sich an den Hals. So ein Ding würde er sich niemals umlegen.
Während er versonnen die teure Kleidung musterte, wurde ihm bewusst, dass er, obwohl er den Namen übernommen hatte, nicht Jonas Kronburg war. Und es auch nicht sein musste. Der Unfall gab ihm die perfekte Gelegenheit, seinen eigenen Geschmack zu finden. Er brauchte sich nicht in die Form zu zwängen, die sein Körper bisher gelebt hatte. Er konnte einfach er selbst sein und alles mit der Amnesie entschuldigen.
Er selbst, der neue Jonas Kronburg. Das waren bestimmt keine Anzüge und Lederschuhe. Jeans suchte er jedoch vergebens und auch T-Shirts waren Mangelware. Aber er konnte ja einkaufen gehen. Und den Ausflug gleich mit einem Besuch bei Ulf Rebert verbinden. Persönlich war auf jeden Fall besser, als die neue Situation am Telefon zu erklären. Vielleicht war anschließend sogar Zeit für etwas Sightseeing. Er wollte zu gerne den Kölner Dom bestaunen, diese riesige gotische Kathedrale zu Ehren Gottes, an der jahrhundertelang gebaut worden war.
Nachdenklich lief er die Treppe hinunter. Blieb nur noch das Problem, wie er in die Innenstadt kommen sollte.
Von der Diele aus führte eine Tür in die große Doppelgarage. Er warf einen Blick hinein und fand sie erwartungsgemäß leer vor. Vermutlich stand der teure Mercedes auf dem Firmenparkplatz des Reisebüros. Jonas Kronburg war gestern Mittag zu Fuß unterwegs gewesen, doch er war sicher am Morgen mit dem Wagen zur Arbeit gefahren.
Er schloss die Verbindungstür. Ob es in diesem Haus ein Telefonbuch gab? Vielleicht verbarg das antike Telefonschränkchen alte Schätze? Er zog eine der drei Schubladen auf und hatte sofort Glück. Das dicke Verzeichnis, das er herauszog, war zwar schon einige Jahre alt, verriet ihm aber bereitwillig die Adresse des Rechtsanwalts Ulf Rebert, der günstigerweise in der Innenstadt ansässig war. Zufrieden grinsend suchte er noch den Taxiruf heraus und bestellte einen Wagen. Als er auflegte, erlosch das Grinsen jedoch und machte einer nachdenklichen Miene Platz. Ilona hatte ihm doch erzählt, dass sie die Ansage vom Krankenhaus erst am Morgen abgehört hatte. Wie konnte es dann sein, dass der Anruf des Rechtsanwalts vom Vortag noch als neu geführt worden war? Bedeutete das nicht, dass sie schon vor 16.30 Uhr von seinem Zustand gewusst hatte? Er wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen, doch plötzlich konnte er sich eines gewissen Misstrauens seiner neuen Ehefrau gegenüber nicht erwehren.