Umwege zum Glück - Leseprobe
»Corinna?«
»Mhm?«
»Ich glaube, wir müssen fahren.«
Sie drehte sich auf den Rücken. »Wieso denn? Ist es schon so spät?«
»Wir haben noch eine ganz schöne Strecke vor uns. Außerdem gefällt mir das Wetter nicht.«
»Was ist damit?«
»Schau dir mal die dunklen Wolken an, die da hinten aufziehen. Ich glaube, es gibt ein Gewitter.«
Im Nu war Corinna auf den Beinen. »Dann sollten wir wirklich los. Radeln bei Regen ist nicht mein Fall.«
Schnell hatten sie ihre Sachen zusammengepackt. In der Ferne hörten sie schon dunkles Grollen. Erschrocken sah sie Sandie an.
»Vielleicht zieht es in die andere Richtung«, versuchte er, sie zu beruhigen, doch er klang nicht sehr überzeugend.
Während sie ihre Fahrräder durch das Gras schoben, warf Corinna ständig einen misstrauischen Blick zum Himmel. Als sie den Feldweg erreichten, der direkt zur Straße führte, donnerte es wieder. Lauter diesmal, bedrohlicher. Dunkle Wolken türmten sich in Minutenschnelle zu hohen Bergen und verschluckten das helle Tageslicht. Ihr wurde mulmig zumute. Sie fürchtete sich nicht vor einem Gewitter, aber nun hatten sie mehr als zwei Stunden Heimweg vor sich, vielleicht sogar drei, weil sie nicht mehr so frisch waren wie am Morgen.
Sie waren erst seit ein paar Minuten unterwegs, als sie die ersten Tropfen spürten. Dicke Tropfen, die auf ihrer Kleidung zerplatzten und sie durchnässten. Schon bald begann es gleichmäßig zu regnen.
Corinna schniefte. Die Aussicht, die ganze Strecke bei Regen und in nassen Sachen radeln zu müssen, erschreckte sie. Am liebsten wäre sie umgekehrt. Aber wohin sollten sie denn gehen? Ein gleißend heller Blitz zuckte an ihrer rechten Seite zu Boden, zwei Sekunden später knallte der Donner so laut, dass sie erschrocken ihren Lenker verriss und beinahe im Straßengraben gelandet wäre.
Sandie stieg ab. »Es hat keinen Zweck«, sagte er, als sie neben ihm hielt. »Das Gewitter ist noch etwas weg, aber bald sind wir mittendrin. Dann möchte ich nicht unterwegs sein.«
»Was sollen wir denn tun?« Corinna sah ihn verzagt an. »Wir könnten in einem Gasthof Schutz suchen.«
»Ja, das könnten wir.« Sandie sah in den Himmel. »Aber das Gewitter kann lange dauern. Ich habe einen besseren Vorschlag. Freunde von mir besitzen ein Wochenendhaus hier. Nur einen halben Kilometer hinter dem Feldweg. Da können wir bleiben, bis es aufgehört hat zu regnen.«
»Werden deine Freunde denn nichts dagegen haben?«
»Nein, bestimmt nicht.« Sandies Stimme klang allerdings nicht ganz überzeugt. Er zuckte mit den Schultern. »Es ist auf jeden Fall die beste Lösung. Der nächste Gasthof ist zu weit weg. Komm, wir drehen um.«
Sie radelten mit Höchstgeschwindigkeit. Inzwischen prasselte der Regen nur so auf sie herunter. Corinnas Shirt klebte ihr am Körper und auch die kurze Jeans, die sie trug, war schon klitschnass. Sie keuchte vor Anstrengung, denn Sandie legte ein flottes Tempo vor. Mit seinem Rennrad fiel ihm das nicht schwer, aber sie hatte gewaltig zu kämpfen, um mit ihm Schritt zu halten. Endlich bog er in eine schmale Seitenstraße ein. Kurz darauf hatten sie ein kleines Häuschen erreicht.
»Wir lehnen die Räder einfach gegen die Wand.«
Corinna konnte nicht antworten, so sehr rang sie nach Atem. Auch Sandie atmete schwer. Er angelte hinter einem Fensterladen nach dem Haustürschlüssel.
»Verflixt, wo ist er denn?«
»Vielleicht haben deine Freunde ihn mitgenommen?«
Er sah sie düster an. »Mal bloß nicht den Teufel an die Wand.« Dann hellte sich seine Miene auf. »Ich hab ihn.«
»Gott sei Dank.« Corinnas Knie waren plötzlich ganz weich.
Sandie sperrte die Tür auf und schob sie ins Haus. Es bestand lediglich aus drei Zimmern, einem winzigen Bad und einer kleinen Küche. Aber es war gemütlich eingerichtet und vor allem wasserdicht.
Corinna stand in der gefliesten Küche und beobachtete interessiert die zwei Pfützen, die sich um ihre Füße bildeten. Sandie zog das große Badetuch aus dem Korb. »Du musst die nassen Sachen ausziehen, sonst erkältest du dich.«
»Ich habe aber nichts anderes dabei.«
»Macht doch nichts. Runter mit dem Zeug.« Sandie zog ihr das Shirt über den Kopf.
»Lass. Das kann ich allein. Kümmere dich um dich selbst. Du bist genauso nass.«
Draußen blitzte und donnerte es unaufhörlich. Corinna hatte sich fest in eine Decke gewickelt und sah aus dem Fenster. Sie war fasziniert von dem ständig wechselnden Spiel aus Licht und Schatten. Der Regen hatte nachgelassen, dafür stand das Gewitter nun genau über ihnen. Bei einem besonders heftigen Donnerschlag fuhr sie zusammen.
»Keine Angst. Uns kann hier nichts passieren«, murmelte Sandie hinter ihr. Er hatte sein T-Shirt ausgezogen und trug nur noch seine Shorts. Als er den Arm um ihre Schultern legte, lehnte Corinna sich an ihn. Sie genoss die Wärme seines nackten Oberkörpers.
»Glaubst du, wir können heute noch heimfahren?«
»Wenn es nicht mehr lange dauert, schon. Aber wir können zur Not auch hier übernachten. Die Betten sind zwar abgezogen, aber wenn wir unsere Decken auf die Matratzen legen, müsste es gehen.«
»Übernachten? Hier?« Corinnas Augen wurden groß.
»Natürlich. Warum nicht? Ich schau mal nach, ob ich in dieser Bude was zu essen finde.« Leise vor sich hin summend verschwand Sandie in der Küche.
Corinna war ratlos. Der Gedanke, hier mit ihm die Nacht zu verbringen, hatte etwas furchtbar Aufregendes, das ihre Haut prickeln ließ. Aber Astrid würde sich Sorgen machen. Telefon gab es in diesem Haus nicht und so hatte sie keine Möglichkeit, ihre Schwester zu verständigen.
»Corinna, kommst du mal?«, tönte es aus der Küche. Sie zog die Decke fester um ihre Schultern und ging zu Sandie, der eine Dose Gemüsesuppe in der Hand hielt.
»Wenn du willst, kannst du deine Kochkünste jetzt unter Beweis stellen«, rief er fröhlich. Dann stutzte er. »Querida, was ist denn los?« Er stellte die Suppe weg und nahm sie in die Arme. Corinna lehnte sich an seine Brust und merkte, wie ihr Herz sofort wieder schneller zu schlagen begann.
»Wir hätten Astrid anrufen sollen«, murmelte sie leise. »Sie hätte uns sicher mit dem Auto abgeholt.«
»Bestimmt, ja.« Sandie strich ihr sanft über den Rücken. »Aber wer weiß, wo wir ein Telefon gefunden hätten. Und was hätten wir mit den Rädern gemacht?« Er seufzte leise. »Erschreckt dich die Aussicht, mit mir hier eine Nacht zu verbringen, so sehr?«
Sie sah zu ihm auf und schüttelte den Kopf. Diese Vorstellung hatte durchaus ihren Reiz. Doch ihr Verantwortungsgefühl stellte sich dem in den Weg. »Astrid wird sich um mich sorgen.«
»Sie kann sich bestimmt denken, dass wir irgendwo Unterschlupf suchen. Sie wird sicher wissen, dass dir nichts passiert. Ich bin doch bei dir.« Sandie sah das belustigte Lächeln um Corinnas Mundwinkel »Ach, jetzt verstehe ich«, nickte er. »Gerade deswegen macht Astrid sich Sorgen.« Er lachte amüsiert. »Es geht eben nichts über ältere Schwestern, die auf einen aufpassen. Ich verspreche dir …« Die Worte erstarben ihm auf den Lippen und er wandte sich verlegen ab. »Machst du die Suppe heiß? Ich schau mal, ob ich ein paar passende Kleider für dich finde. Vielleicht hat die Tochter des Hauses einige Sachen hier deponiert.«
Corinna nickte. Sie bemerkte einen seltsamen Ausdruck in Sandies Miene, konnte ihn jedoch nicht deuten. Außerdem war sie viel zu müde, um noch über solche Kleinigkeiten nachzudenken. Sie suchte in den Schränken nach einem Kochtopf und setzte dann die Suppe auf. Wenigstens würden sie nicht verhungern. Langsam fand sie Gefallen an diesem Abenteuer.
Sandie trieb tatsächlich Jeans und eine Bluse für sie auf. Die Hose war etwas zu kurz und auch zu eng, aber Corinna ließ einfach den Knopf offen. Die Besitzerin musste kleiner als sie sein und dabei eine unglaublich schmale Taille haben. Sie erzählte Sandie von ihrer Vermutung, während sie die heiße Suppe aßen.
»Absolut«, stimmte er ihr zu. »Sie hat eine Mannequinfigur.«
»Die hätte ich auch gern«, seufzte sie.
»Allzu mager ist auch nicht schön. Du gefällst mir so, wie du bist.«
»Ehrlich?«
»Ganz ehrlich.«
Das Gewitter hatte sich inzwischen verzogen, doch es regnete wieder heftiger. An eine Heimfahrt war nicht zu denken.
»Wo können wir schlafen?«, fragte sie, während sie nachdenklich aus dem Fenster sah.
»Es gibt zwei Zimmer mit Betten. Aber wie ich vorhin schon gesagt habe, ist kein Bettzeug da. Du musst mit deiner Decke und einem Sofakissen auskommen.«
»Kein Problem.« Corinnas Laune hatte sich erheblich gebessert. Immerhin würde sie eine Nacht zusammen mit Sandie verbringen. Dazu waren sie hier gut und trocken aufgehoben. Sie lehnte sich zurück und gähnte.
»Bist du schon müde?«
»Ein bisschen. Wieso? Hast du noch etwas für heute Abend geplant?«
Sandie lachte. »Wir können Karten spielen, wenn du Lust hast. Andere Zerstreuungen gibt es hier leider nicht.«
»Okay.« Corinna stand auf. »Ich spüle nur schnell die Teller ab. Bin gleich wieder da. Du kannst ja schon mal die Karten heraussuchen.«
Unruhig drehte sich Corinna auf die andere Seite. Schlaftrunken versuchte sie, die Zeiger ihrer Armbanduhr zu erkennen. Es war erst kurz nach Mitternacht. Sie hatte kaum eine Stunde geschlafen. Dabei war sie beim Kartenspielen vor Müdigkeit fast am Tisch eingenickt. Der Regen hatte endlich aufgehört und fahles Mondlicht schien in ihr Zimmer. Ob es das war, was sie geweckt hatte? Nein, sie hatte eher das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie blickte zur Tür. Für einen kurzen Moment hielt sie den Atem an, als sie Sandie sah, der am Türstock lehnte. Schweigend musterte er sie und wirkte dabei unsicher und verlegen wie ein kleiner Junge. Seine Augen waren groß und dunkel, als er sie im fahlen Mondlicht ansah.
Corinna wurde heiß. Sie wusste, sie musste nur den Kopf schütteln und er würde genauso leise wieder gehen, wie er gekommen war. Doch sie sehnte sich nach etwas Zärtlichkeit. Nach seinen Händen, die sie sanft streichelten, nach seinem Mund, der sie küsste und ein heißes Verlangen in ihr auslöste. Sie wollte ihm nahe sein, ihn fühlen und berühren. »Komm«, sagte sie rau und hob einen Zipfel ihrer Decke hoch.
»Bist du sicher?«, fragte er leise, als er sie in die Arme nahm.
»Ganz sicher.« Corinna kuschelte sich an ihn. Wie warm er war. Sie genoss das prickelnde Gefühl, das sie durchflutete. Sandie streichelte zärtlich ihr Gesicht, die andere Hand liebkoste ihre Brüste und tastete sich langsam nach unten weiter.
»Wirklich?«, flüsterte er an ihrem Ohr.
Als Antwort schickte sie ihre Hände ebenfalls auf Wanderschaft, während ihr Herz bis zum Hals klopfte und dabei vor Liebe fast zu zerspringen drohte.
Es dämmerte bereits. Nachdenklich blickte Corinna aus dem Fenster in den erwachenden Tag. Er würde schön werden. Sie hörte schon eine Amsel flöten und dazwischen einige andere Vogelstimmen, die sie nicht identifizieren konnte. Sandie lag in ihren Armen und schlief. Lächelnd sah sie auf die blonden, völlig zerzausten Haare hinunter. Jetzt war es also passiert. Sie bereute die letzte Nacht nicht. Er war so behutsam, so einfühlsam gewesen. Sanft strich sie über seine Wange, ohne ihn aufzuwecken. Sie liebte diesen Jungen, liebte ihn so sehr, dass sie ihre Gefühle gar nicht beschreiben konnte. Er war der Mann ihres Lebens. Das, was sie gemeinsam hatten, würde ewig halten.
Sie lächelte. Vielleicht waren ihre Gedanken ein wenig zu pathetisch, aber sie wusste, dass Sandie genauso fühlte. Sie gehörten einfach zusammen.
Sie musste die Flecken aus der Decke waschen. Astrid würde einen Anfall bekommen, wenn sie entdeckte, was auf ihrer Lieblingsdecke passiert war. Corinna verzog schuldbewusst das Gesicht. Wie lange war es her, dass sie ihrer Schwester gegenüber behauptet hatte, sie könne selbst bestimmen, wann sie mit einem Jungen schlafen würde? Hatte sie es denn nun bestimmt? Sie musste zugeben, dass es ihre eigene Entscheidung gewesen war. Sandie hatte sie nicht bedrängt. Es war einfach passiert. Aber sie bereute es nicht. Sie war glücklich, dass es passiert war. Hier, in diesem kleinen Häuschen, in aller Abgeschiedenheit, wo es nur sie beide gab. Zwei junge Menschen und ihre Liebe.
Vorsichtig versuchte sie, Sandie zur Seite zu schieben. Er grunzte unwillig und drehte sich um. Sie zog die Decke unter ihm hervor und begab sich ins Badezimmer. Mit kaltem Wasser und viel Seife rubbelte sie die dunklen Flecken heraus. Plötzlich fühlte sie einen zarten Kuss im Nacken und Sandies Arme, die sie umfingen. »Guten Morgen, querida.«
»Aua, du pikst ja. Guten Morgen, du Brummbär. Schon ausgeschlafen?«
»Nein, aber ich habe dich vermisst. Was tust du da?«
»Die Decke auswaschen. Astrid geht dir an die Kehle, wenn sie spitz kriegt, dass du ihre kleine Schwester verführt hast.«
»Verführt? Habe ich dich verführt?« Sandie drehte sie mit einem Ruck zu sich herum. »Darf ich dich daran erinnern, dass du mich regelrecht eingeladen hast?«
»Wenn du meinst.« Corinna stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn küssen zu können. Seine Bartstoppeln kratzten an ihrer Wange, doch das gefiel ihr.
»Mmh, das möchte ich in Zukunft jeden Morgen. Kommst du wieder ins Bett?«
»Meine Decke ist nass.«
»Macht nichts. Ich teile meine sehr gerne mit dir.« Sandie vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. »Letzte Nacht hatte ich einen wunderschönen Traum. Ich würde gern versuchen, ob ich ihn noch einmal träumen kann.«
»Du hast nicht geträumt, mein Lieber.«
»Nein? Kannst du das beweisen?« Der Schalk blitzte aus seinen Augen, gleichzeitig eine Aufforderung und der bange Wunsch nach Bestätigung.
Corinna lächelte. Sie liebte dieses Funkeln, das seine Augen noch blauer erscheinen ließ. Sie hatte dann das Gefühl, bis auf den Grund seiner Seele sehen zu können.
Als sie merkte, dass sie nur da stand und ihn betrachtete, wurde sie verlegen. Schnell wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. »Geh schon voraus«, murmelte sie. »Ich hänge die Decke noch irgendwo zum Trocknen auf und komme dann nach.«
»Ich freue mich darauf, querida«, flüsterte Sandie und küsste nochmals ihren Nacken. »Lass mich nicht zu lange warten, ja?«